Vorbeter im Visier der Regierung
Imame, die religiösen Gelehrten, die als Vorbeter in Moscheen arbeiten, sind in der Türkei nicht nur ihrem Glauben verpflichtet. Auch das Präsidialamt für religiöse Angelegenheiten Diyanet redet bei der Beurteilung ihrer Arbeit ein gewichtiges Wort mit. Das Amt erstellt Richtlinien, die das Gebet, die Glaubensvermittlung oder die Sitten regeln. Verstöße werden mit Härte geahndet, meistens mit der Entlassung.
Die Religionsbehörde Diyanet wollte sich nicht dazu äußern, wieviele Imame wegen "Verstößen gegen die Richtlinien" - so die übliche Begründung - entlassen wurden, doch Einzelschicksale von Imamen, die mit der Deutschen Welle gesprochen haben, deuten auf die Ernsthaftigkeit des Problems hin.
Der 35-Jährige Imam Abdullah widersetzte sich dem Mufti seiner Gemeinde, der eine Fatwa - ein islamisches Rechtsgutachten - erlassen hatte. "In dem Gesetz heißt es, dass Frauen ohne Begleitung von Männern nicht den Supermarkt betreten dürfen. Das habe ich anders gesehen", berichtet Abdullah. Anschließend habe man sein Facebook-Profil genau durchsucht und mehr Belastungsmaterial gefunden: In einem Eintrag erlaubte Abdullah Frauen, mit Nagellack auf den Fingernägeln zu beten oder religiöse Waschungen durchzuführen.
"Gibt es gar keine Meinungsfreiheit mehr?"
"Dann ging alles ganz schnell. Wenig später wurden Ermittlungen eingeleitet." Nach sechs Jahren im Amt wurde Imam Abdullah fristlos entlassen. "Verstoß gegen die Richtlinien", so lautete die Begründung der Religionsbehörde.
"Bei meinen Aussagen habe ich mich auf die Meinungsfreiheit berufen. Ich habe nur meinen Job gemacht, denn es ist doch meine Aufgabe, die Menschen dazu zu bringen, ihren Verstand zu gebrauchen. Ich dachte, dass es in diesem Land Meinungsfreiheit gibt", beklagt sich Abdullah.
Ahmet Muhsin Tüzer, der auch als "Rock-Imam" bekannt ist, wurde vor neun Monaten entlassen, weil er "gegen die Richtlinien" verstoßen habe. Er hatte in der Mittelmeerstadt Kas eine Rockband gegründet: "Unmittelbar nach der Gründung fing die Diyanet an, sich mit unserer Band zu beschäftigen; sie schickten einen Untersuchungsbeamten zu unseren Auftritten, zudem durchwühlten sie mein gesamtes Privatleben." Kurz danach kam die Anschuldigung: Der Rock-Imam hätte ohne Erlaubnis des Muftis Konzerte veranstaltet und dabei viel Geld verdient. Zwar hätte er seine Kontoauszüge eingereicht, doch das hätte nichts bewirkt. "Als das Kündigungsschreiben eintraf, war ich sehr geschockt."
Schon vor seiner Tätigkeit als Musiker sei er jedoch negativ aufgefallen, berichtet Tüzer. "Der Erfinder der Glühbirne Thomas Alva Edison ist sicherlich in den Himmel gekommen", lobte er einmal den Pionier der Elektrotechnik - eine Aussage, die dem Bezirks-Mufti nicht gefallen habe; der Amerikaner Edison war Christ. "Eine Schande für Demokratie und Freiheit", beklagt sich Tüzer.
Die Willkür des Muftis
Im Fall des 41-Jährigen Imams Serkan aus Mersin, einer Stadt nahe der syrischen Grenze, reichte eine vage Anschuldigung: Nach 15-jähriger Tätigkeit als Imam verlor er seinen Job, weil die Sekretärin des Bezirks-Muftis – so sagt er - ihn verleumdet hätte. "Er hat eine Schwäche für mich", beschwerte sie sich beim Mufti. Daraufhin hätte man ihm vorgeworfen, eine außereheliche Beziehung mit der Mitarbeiterin des Rechtsgelehrten gehabt zu haben. Der Mufti schickte den "Müfettis", einen Untersuchungsbeamten, der den Fall untersuchte. Als dieser eine Liste mit Telefonaten aus den letzten sechs Monaten von dem Imam verlangte, hätte sich er sich geweigert. "Das wäre ein Eingriff in meine Privatsphäre gewesen", erwiderte er dem Beamten. Das hatte Konsequenzen: Im November 2018 wurde er entlassen, die Begründung kennen viele entlassene Imame: "Verstoß gegen Richtlinien".
Ein verhängnisvolles Gebet
In der südostanatolischen Stadt Sirnak wurde der 46-jährige Imam S.T. nach 25-jähriger Tätigkeit als Imam entlassen. Zum Verhängnis wurde ihm die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Im Sommer 2015 besetzten PKK-Milizen mehrere Städte. Die türkische Regierung reagierte mit einer Militäroperation in den Kurdengebieten. Seiner Arbeiter-Gewerkschaft DIVES wurden in dieser Zeit Verbindungen zu kurdischen Terrormilizen nachgesagt. Daher wurde er per Notstandsdekret suspendiert, ebenso wie neun weitere Gewerkschafts-Kollegen in Sinopi, berichtet er.
Zekeriya Bilada schließlich, der in der Kleinstadt Nevsehir als Imam tätig war, erhielt kurz vor den türkischen Kommunalwahlen am 31. März eine Einladung von der nationalkonservativen Iyi Parti, ein Gebet zu leiten. Der AKP-nahe Mufti schaltete sich ein, um ihm mitzuteilen, dass er durch einen anderen Imam ersetzt werde. Die Begründung: Er habe für eine "FETÖ-Anhängerin" gebetet - gemeint ist die Vorsitzende der Iyi Parti, Meral Aksener. FETÖ ist die Bezeichnung der Regierung für die Gülen-Bewegung, die angeblich an dem Putschversuch beteiligt gewesen sein soll.
Der islamische Rechtsgelehrte berief sich auf den Artikel 25 im Gesetz für Religiöse Angelegenheiten. "Religiöses Personal darf die Haltung und Meinung von Parteien weder loben noch kritisieren", heißt es darin.
Diyanet als politisches Instrument?
Der Imam kann diese Argumentation nicht nachvollziehen, denn fast alle türkischen Imame hätten vor den Kommunalwahlen politische Statements abgegeben. Diejenigen, die für den AKP-Kandidaten Binali Yildirim gebetet hätten, seien heute noch im Amt, beschwert sich Bilada.
Türkische Oppositionelle kritisieren, dass das Präsidialamt für religiöse Angelegenheit immer politischer agiere. Der Vorwurf lautet, dass die Behörde die Interessen der islamisch-konservativen Regierung vertrete. Das ist eine problematische Angelegenheit, denn der Laizismus - die Trennung von Staat und Religion - ist seit der Staatsgründung im Jahr 1923 eines der Grundprinzipien der Türkei. Staatsgründer Kemal Mustafa Atatürk sah die Trennung von Staat und Religion als einen von "sechs Pfeilern des türkischen Staates". Bis heute sind die meisten Menschen in der Türkei vom Prinzip des Laizismus überzeugt.
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