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Politik

"Flüchtlinge in der Falle Libyen"

7. September 2017

Die von der EU angestrebte Schließung der Migrantenroute von Libyen nach Italien "ist grausam", sagt Ärzte-ohne-Grenzen-Präsidentin Joanne Liu. Die Lager in Libyen seien unerträglich. Von Bernd Riegert, Brüssel.

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Afrikanische Flüchtlinge in einem Flüchtlingslager Tripolis
Bild: picture-alliance/dpa/S. Kremer

Vor einigen Tagen ist die internationale Präsidentin der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF), Joanne Liu, aus Libyen zurückgekehrt. Dort konnte sie Gefängnislager für Migranten besuchen. Diese Eindrücke hätten sie tief schockiert. Bei ihrer Pressekonferenz in Brüssel ringt sie immer noch um Fassung. Die Zustände in den offiziellen Lagern der libyschen Regierung, die brutalen Menschenrechtsverletzungen seien das Schlimmste, was sie je gesehen habe, erzählt Joanne Liu den Journalisten. Mit Stöcken würden die Insassen geprügelt, damit sie von Türen zurückweichen.

Männer, Frauen, Kinder kauerten in dunklen überfüllten Räumen auf dem Boden. Frauen, besonders Schwangere, würden systematisch vergewaltigt, ihre Männer geschlagen. "Das alles haben sie mir erzählt. Sie konnten nur flüstern. Sie flehten, bring uns hier raus. Ich konnte nur zuhören", sagt die schwer mitgenommene Ärztin Liu in Brüssel.

Einen jungen Mann aus Gambia hat sie im Krankenhaus in der Obhut von "Ärzte ohne Grenzen" besucht. Der Mann hungerte im Lager und war so unterernährt, dass er im Lazarett gerettet werden musste. "Er konnte mich nicht anschauen, nur die Tränen rannen über seine Wangen, während er sprach. Ich fragte mich, was mache ich hier eigentlich? Wir päppeln diesen Mann wieder auf, dann muss er ins Lager zurück und muss dort wieder hungern."

Libysche Milizen betrachten Migranten als "Ware"

Joanne Liu
MFS-Präsidentin Liu: "Bring uns hier raus"Bild: DW/B.Riegert

Nach den Beobachtungen von Mitarbeitern von "Ärzte ohne Grenzen" werden Migranten, die die libysche Küstenwache abfängt, in diese Lager gesteckt. Die Menschen würden aber auch willkürlich auf den Straßen von Tripoli eingefangen, aus Wohnungen oder Autos gezerrt und in die Gefängnisse gebracht.

Oft würden diese schrecklichen Lager von Milizen bewacht. Niemand werde registriert. Es gebe keine Verwaltung, niemand wisse, was mit den Menschen passiere. Etwa 40 dieser "offiziellen" Lager gibt es. Wie viele die Milizen sonst noch "wild" betreiben, sei unklar, meint Jan-Peter Stellema von den "Ärzten ohne Grenzen". "Wir fühlen uns sehr unwohl dabei, diese Menschen gesund zu pflegen, nur damit die Milizen sie weiter ausbeuten können. Das machen sie dadurch, das sie sie an Menschenhändler verkaufen, durch Zwangsarbeit. Sie bekommen von der Regierung pro Insasse einen bestimmten Betrag. Die Milizen verdienen Geld damit", schildert Stellema die Zustände in Libyen.

Es gebe keine wirkliche Regierung, die irgendetwas kontrolliere. Viel eher sei es so, dass die Küstenwache, die von der Europäischen Union ausgebildet und finanziert wird, mit den Milizen in den Lagern zusammenarbeite. Die Regierung in Rom soll, so berichteten italienische Medien, sogar direkt Gelder an Milizen zahlen, damit diese Migranten zurückhalten.

EU als Komplizin der Gefängnisbetreiber?

Die Ärzte-ohne-Grenzen-Präsidentin Liu ist empört. Sie hat einen offenen Brief an die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten geschrieben, in dem sie der Europäischen Union Komplizenschaft mit den Milizen und Menschenhändlern vorwirft. Die Abschottung der libyschen Küste fülle die Lager. "Das ist ihr sogenannter Erfolg", sagt Liu an die EU gewandt. "Sie überlassen wissentlich diese Menschen den Kriminellen. Sagen Sie mir, wie wir das akzeptieren können? Wir dürfen die Menschen nicht in der Falle Libyen festhalten. Wir müssen einen Ausweg finden. Wir dürfen sie nicht zwingen, nach Libyen zurückzukehren."

Nach Libyen zurückgebrachte Flüchtlinge in Tripoli
Nach Libyen zurückgebrachte Flüchtlinge: "Industrie der Leiden"Bild: Getty Images/AFP/M. Turkia

Es müsse legale Wege nach Europa geben, um diese unglaublich grausamen Zustände in den Lagern zu beenden. Man könne Libyen nicht als normalen Verhandlungspartner betrachten. "Diese Lager sind für mich Fabriken, die Leiden erzeugen. Das ist eine Industrie der Leiden. Ich kann nicht glauben, dass irgendeine europäische Regierung indirekt oder direkt zu dieser Art von Industrie beitragen will", klagt Liu.

"Geht nicht nach Libyen!"

Die Staaten, aus denen die Migranten in Afrika kommen, hätten oft keine Mittel und keinen Willen, für ihre Bürger Verantwortung zu tragen, meinte der Generaldirektor von "Ärzte ohne Grenzen", Arjan Hehenkamp, auf eine Frage der Deutschen Welle in Brüssel. "Für mich ist es ganz klar, dass die Menschen nicht nach Libyen reisen sollten. Wir und die Regierungen sollten alles tun, damit diese Menschen nicht aufbrechen und in diese Situation geraten", sagte Hehenkamp.

Der MSF-Generaldirektor hat in den Lagern in Libyen immer die gleichen Geschichten gehört: "Ich habe mit Migranten gesprochen, die sagten, alle meine Freunde sind aufgebrochen und nach Europa gegangen. Sie hätten die Horrorgeschichten gehört, aber sagten sich, das werde ihnen schon nicht passieren." Die Reise nach Libyen sei für die schlecht informierten Migranten ein "verrückter" Fehler gewesen, erzählt Hehenkamp. In Libyen harrten die Menschen jetzt in einer ausweglosen Sackgasse aus, weil der Weg nach Europa versperrt ist.

EU weist Vorwürfe zurück

Eine Sprecherin der EU-Kommission, die ebenfalls einen Protestbrief von "Ärzte ohne Grenzen" erhalten hat, wies die Vorwürfe von Joanne Liu zurück. Man wisse, dass die Bedingungen in den Lagern grausam seien. Die EU werde gemeinsam mit der libyschen Regierung und der Vereinten Nationen daran arbeiten, diese Migrantenlager zu verbessern. Von einer Mittäterschaft oder Komplizenschaft könne nicht die Rede sein.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte beim EU-Flüchtlingsgipfel mit afrikanischen Staaten vor zehn Tagen in Paris, die Zustände in Libyen als menschenunwürdig beschrieben. Die Schließung der Fluchtroute über das Mittelmeer nach Italien sei dennoch das richtige Rezept, verkündete Merkel in Paris. Der libysche Präsident Fayez al-Sarraj hatte beim gleichen Treffen Besserung versprochen, aber auch eingeräumt, dass seine Regierung keine Gewalt über ganz Libyen habe.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union