PEN - 100 Jahre für die Meinungsfreiheit
5. Oktober 2021Es kommt in sehr vielen Ländern vor - ob heute in Belarus, China, der Türkei, im Iran oder in Eritrea, ob früher im nationalsozialistischen Deutschland oder im kommunistischen Ostblock: Wenn Herrschende die Meinungsfreiheit unterdrücken, werden Autorinnen und Autoren verfolgt, inhaftiert und nicht selten auch ermordet. Dagegen bäumt sich seit inzwischen einem Jahrhundert die internationale Schriftstellervereinigung PEN auf. "100 Jahre PEN", sagt Regula Venske, Präsidentin des deutschen PEN-Zentrums, "ist sowohl ein Anlass zu feiern, als auch innezuhalten, zu gedenken und zu trauern."
Viele tapfere Frauen und Männer bezahlten ihr Menschenrecht mit dem Leben, so Venske. Noch immer würden Schreibende weltweit verfolgt und bräuchten Unterstützung. "Das Wort ist die Waffe, die die Herrschenden in autoritären Regimen weltweit am meisten fürchten", sagt Venske im DW-Interview. "Die ersten, die immer verhaftet werden, sind die Schriftstellerinnen und Schriftsteller und die Journalistinnen und Journalisten." In Deutschland, wo es friedlicher zugehe, so Venske, sei die Literatur etwas in die "Unterhaltungsecke gerutscht", also eher Zeitvertreib am Feierabend. "Aber das Wort ist elementar für Dinge wie Freiheit, Wahrheit, das menschliche Zusammenleben überhaupt. Das ist das, was es ausmacht."
Stimme verfolgter Autorinnen und Autoren
PEN: Die Abkürzung steht für "Poets, Playwrights, Essayists, Editors, Novelists", also für Dichter, Dramatiker, Essayisten, Redakteure und Romanciers. 1921 in England zunächst als literarischer Freundeskreis gegründet, breitete sich der PEN bald über den ganzen Globus aus, vor allem als Stimme verfolgter und unterdrückter Autoren.
Es war eine mutige Frau, die vor 100 Jahren die Initiative ergriff: Die englische Schriftstellerin Catherine Amy Dawson Scott versammelte am 5. Oktober 1921, einem Dienstag, mindestens 40 Gleichgesinnte zum Gründungsdinner in einem Londoner Restaurant. Die Gesellschaft erschien in Anzug und Abendkleid, betrieb Konversation unter üppigen Kronleuchtern und hielt Ansprachen. Während des sechsgängigen Menüs brachte der erste Präsident des PEN, John Galsworthy, einen Toast aus. Darin sagte er, dass sich die Schriftsteller als die "Treuhänder der menschlichen Natur" verstünden. Die literarische Kultur müsse sich aber aus der Politik heraushalten. Nur so könne der PEN seine Unabhängigkeit sichern.
Die Idee des Literaten-Netzwerkes machte Schule. Binnen eines Jahres schossen in Paris, New York, Brüssel, Oslo, Barcelona und Stockholm neue PEN-Zentren aus dem Boden. Am Ende des Jahrzehnts zählte der PEN schon mehr als 40 Clubs mit über 3000 Mitgliedern in Afrika, Asien, Europa, Ozeanien, Süd- und Nordamerika. Der Londoner Club fungierte als Dreh- und Angelpunkt. Internationale Kongresse wurden an wechselnden Orten abgehalten. Ein monatlicher Rundbrief sorgte für den Informationsfluss.
PEN positioniert sich gegen Nazis
Bis Mitte der 1930er-Jahre war der PEN weit über die Grenzen Europas hinausgewachsen, jetzt gab es Zentren auch in Johannesburg und Kapstadt, in Tel Aviv und Buenos Aires, in Peking, La Paz, Bagdad und Bombay, in Kairo und Tokio. Sogar ein nichtterritorialer jiddischer PEN mit Zentren in New York, Warschau und Wilna entstand. In seinem "Aufruf an alle Regierungen" appellierte der PEN erstmals 1931 an die Herrschenden, die "Rechte von Autorinnen und Autoren zu achten, die aus religiösen oder politischen Gründen inhaftiert" waren. Weitere Appelle sollten folgen - und sie klangen zunehmend politischer.
Spätestens die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland zwang den PEN zur Positionierung. Auslöser waren die immer schärfere Verfolgung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die Zensur, die Bücherverbrennungen und schließlich die Gleichschaltung des deutschen PEN. Auf dem PEN-Kongress in Dubrovnik im Mai 1933 ergriff der inzwischen im Exil lebende jüdische Autor Ernst Toller das Wort und sprach über die Folgen der Naziherrschaft.
"Millionen Deutsche dürfen nicht frei reden"
Er nannte die Namen von 60 Schriftstellerinnen und Schriftstellern, deren Bücher zwei Wochen zuvor in Berlin verbrannt worden waren: "Millionen Menschen in Deutschland dürfen nicht frei reden und frei schreiben", sagte Toller. "Die Herren berufen sich auf die großen deutschen Geister. Aber wie sind die geistigen Forderungen Goethes, Schillers, Kleists, Herders, Wielands, Lessings vereinbar mit der Verfolgung von Millionen Menschen?" Die Stimme des Geistes diene den Mächtigen lediglich als Fassade für politische Zwecke. "Täuschen wir uns nicht", so Toller, "die Politiker dulden uns nur und verfolgen uns, wenn wir unbequem werden. Die Stimme der Wahrheit war niemals bequem."
Mit seiner "Canby Resolution" (1933) verurteilte der PEN die "Verfolgung aufgrund rassischer Vorurteile", die "Raymond Resolution" (1934) verlangte das Recht auf freie Meinungsäußerung für alle Exil-Autorinnen und -Autoren. Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich gab sich der PEN 1948 - analog zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte - eine Charta mit klaren Zielen. "Literatur kennt keine Landesgrenzen", heißt es darin, "und muss auch in Zeiten innenpolitischer oder internationaler Erschütterungen eine allen Menschen gemeinsame Währung bleiben". Der Schutz von Kunst und die Freiheit des Wortes sind bis heute die wichtigsten Forderungen der PEN-Charta.
Größtes literarisches Netzwerk weltweit
Inzwischen hat sich der PEN zum größten literarischen Netzwerk mit Standorten in mehr als 100 Ländern und zu einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen entwickelt. Zu den namhaften Schriftstellerinnen und Schriftstellern, für die sich der PEN stark gemacht hat, zählen unter anderen Federico García Lorca, Stefan Zweig, Musine Kokalari, Wole Soyinka, Salman Rushdie, Ngũgĩ wa Thiong'o, Anna Politkowskaja, Hrant Dink und Swetlana Alexijewitsch.
Für seine Arbeit unterhält der PEN heute mehrere Komitees. Das "Writers-in-Prison-Committee" etwa setzt sich mit Öffentlichkeitskampagnen für die Freilassung verfolgter Autoren, Verleger, Redakteure, Illustratoren und Journalisten ein. Das Stipendiatenprogramm "Writers-in-Exile" unterstützt Schreibende, die in ihrer Heimat verfolgt sind.
Über die bewegte und bewegende Geschichte des PEN ist in diesen Tagen in Deutschland, pünktlich zum Jubiläum, eine informative Publikation erschienen. "Für die Freiheit des Wortes. 100 Jahre PEN International". Das Buch enthält bisher unveröffentlichtes Material und ist reich an Fotos, Notizen und Manuskripten. "Die Freiheit des Wortes ist nichts, wofür man einmal kämpft, um es für immer zu gewinnen", zitiert das Buch die deutsche Schriftstellerin Juli Zeh, die weiter ausführt: "Sie ist ein ewiges Ringen um die Grundlagen des menschlichen Zusammenseins. Welche Aufgabe könnte ehrenvoller für uns Schriftsteller sein!"