100 Tage Proteste in Venezuela
9. Juli 2017Am ersten April 2017 begann in Venezuela die zweite Welle von Massenprotesten gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro. Auslöser der aktuellen Proteste war die zeitweise Entmachtung des von der Opposition dominierten Parlaments durch den Obersten Gerichtshof - auf Anordnung Maduros. Das Oppositionsbündnis MUD rief daraufhin die Bevölkerung auf, gegen diesen "Staatsstreich" auf die Straßen zu gehen.
Bei den fast täglichen Protestmärschen auf den Straßen der Hauptstadt Caracas kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Demonstranten. Dabei mischen auch die paramilitärischen Schlägertruppen der sogenannten "Colectivos" kräftig mit und tragen zur Verschärfung der Lage bei. Viele der jüngeren Demonstranten reagieren auf die gewaltsame Repression der Sicherheitskräfte, indem sie selbst zu Gasmasken, Helmen, Schutzschilden und sogar improvisierten Schusswaffen greifen.
"Venezuela ist auf dem Weg zum gescheiterten Staat"
Nach 100 Tagen Massenprotesten scheint sich die Spirale der Gewalt unaufhörlich weiterzudrehen. Steht die Regierung von Nicolás Maduro vor dem Kollaps? "Man vergleicht natürlich zwangsläufig die aktuellen Proteste mit denen aus dem Jahr 2014. Schon damals war die wirtschaftliche und politische Lage im Land prekär. Die undurchsichtige Präsidentschaftswahl von 2013 hatte die Opposition erzürnt. Neu hinzugekommen sind aber eine die katastrophale Versorgungslage und die zunehmend autoritären Tendenzen der Regierung. Venezuela ist auf dem Weg zum gescheiterten Staat", bilanziert Daniel León, akademischer Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig.
Die endlosen Proteste und selbst die mindestens 90 Toten, die es dabei gegeben hat, schienen keinen Effekt auf das Machtgefüge in Venezuela zu haben. "Nicht alle Straßenproteste führen zu relativ schnellen Veränderungen, wie wir sie beispielsweise in der Ukraine oder 2011 in Ägypten gesehen haben. Weitere Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Diese Länder beispielsweise waren einem höheren internationalen Druck ausgesetzt", sagt León.
Der Druck der Straße ist entscheidend
"Sollten die Proteste langfristig so weiter gehen, dann werden sie das Regime immer stärker in Verlegenheit und unter Rechtfertigungszwang bringen. Die unteren und mittleren Ränge der Sicherheitskräfte tragen die Kosten dafür, dass sich Maduro immer stärker an die Macht klammert", sagt Daniel León.
Als das Oppositionsbündnis MUD Ende März zu den Protesten aufrief, war nicht damit zu rechnen, dass diese so lange anhalten würden. "Die Dauer und Vielfalt dieser Serie von Protesten ist schon eine Überraschung", sagt Héctor Briceño vom Zentrum für Entwicklungsstudien an der Universität Caracas. "Ende 2016 hatte sich das Oppositionsbündnis für ein Ende der Straßenproteste ausgesprochen, um den Dialog mit der Regierung nicht zu gefährden. Der Dialog scheiterte und die Oppositionsführer standen in keinem guten Licht da", erläutert der Wissenschaftler, "deswegen finde ich die breite Unterstützung jetzt so überraschend".
Die Opposition verliert die Kontrolle
Die Verärgerung über das Maduro-Regime scheint deutlich stärker zu sein als die Enttäuschung über die Opposition, vermutet Briceño: "Viele Menschen gehen mittlerweile auf die Straße, ohne auf irgendeinen Aufruf zu warten. Auch in den ärmeren Stadtvierteln, den eigentlichen Hochburgen der Chavistas, kommt es zu spontanen Protesten."
Bis auf weiteres dürften die Massenproteste in Venezuela kein Ende finden, davon sind sowohl Hector Briceño als auch David León in Leipzig überzeugt. "Die Opposition hat zur Zeit keine ausreichenden Optionen, um dieser Regierung die Stirn zu bieten", sagt Briceño: "Nur zunehmende Kritik innerhalb des Chavismus gegenüber Nicolás Maduro und eine Machtverschiebung zugunsten der rebellischen Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz könnten das Regime ernsthaft ins Wanken bringen."