213 Hilfeschreie aus den Lagern
24. Januar 2014Es war ein Zufallsfund: Im Archiv der ukrainischen Provinzstadt Chernivtsi fand der ukrainische Historiker Serhij Ostatschuk 213 Briefe. Geschrieben Ende 1941 von Häftlingen der transnistrischen Lager: Verzweifeltes Flehen um Geld, Lebensmittel, Medikamente. Adressiert an Verwandte, Freunde, Bekannte. Herausgeschmuggelt von Kurieren. Abgefangen von den rumänischen Behörden. Archiviert - und vergessen.
Die Briefe sind inzwischen als "UD", "unikale Dokumente" klassifiziert. Meist bedeutet das, dass sie in den Archiven verschwinden, der Öffentlichkeit entzogen werden. Der Wiener Historiker Grilj hat sie jüngst publiziert und damit davor bewahrt, erneut in Vergessenheit zu geraten
DW: Über das Gedenken an Auschwitz ist der Genozid an den bessarabischen und bukowinischen Juden in Vergessenheit geraten. Warum ist das so?
Benjamin Grilj: Das hat verschiedene Gründe. Zum einen liegt es daran, dass die Erinnerungskultur zur jüdischen Bukowina vollkommen überlagert ist von dem Mythos des friedlichen Miteinanders unterschiedlicher Sprachen, Kulturen und Religionen. Das Positive wird herausgestrichen, das Negative ist vergessen worden.
Ein weiterer Grund: Innerhalb Rumäniens und innerhalb der Ukraine hat es lange Zeit keine Erinnerungskultur gegeben. Was unter anderem mit der sowjetischen Geschichte zusammenhängt, weil hier eine Siegergeschichte erzählt worden ist. In ihr finden zwar auch die Opfer Raum, allerdings sind die Juden eine von vielen Opfergruppen. Sie unterscheiden sich nicht von den Gefallenen, von den Partisanen, von der notleidenden Zivilbevölkerung. Ganz im Gegensatz zur europäischen Erinnerungskultur, wo die Juden mit der Shoa eine ganz besondere Rolle einnehmen.
Was den Holocaust in Transnistrien von Auschwitz unterscheidet
Man weiß, dass es an die 100 Lager in Transnistrien gab. Doch wie viele Menschen dort umkamen, können selbst Experten nicht sagen. Meist ist die Rede von zwischen 150.000 und 400.000 Todesopfern. Warum ist es so schwer, belastbare Zahlen zu ermitteln?
Auf der einen Seite will man nicht Revisionisten in die Hände spielen, auf der anderen Seite nicht ein übersteigertes Bild zeichnen. Daher spreche ich in der Publikation auch nur von dieser großen Spannweite möglicher Opferzahlen. Die Quantifizierung fällt so schwer, weil wir einerseits wissen, dass es schon vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion zu übergriffen der Zivilbevölkerung auf die Juden, zu Pogromen gekommen ist. Wir wissen, dass der NKWD, der sowjetische Geheimdienst, schon vorher aktiv war und Juden unter dem Vorwurf der Spionage erschossen hat. Wir wissen, dass Menschen nach der rumänischen Re-Annexion [Anfang Juli 1941, Anm. d. Verf.] erschossen worden sind. Wir wissen, dass auf den Hungermärschen Menschen erschossen worden oder ertrunken sind. Wir können auch nicht feststellen, wie viele Menschen in Transnistrien umgebracht worden sind.
Was unterscheidet denn den Holocaust in Transnistrien qualitativ vom Holocaust in Auschwitz?
Wenn man sich die großen Lager anschaut, dann ist das eine industrielle Vernichtung. In Transnistrien findet der Holocaust auf zwei Ebenen statt. Da sind die Menschen einfach verhungert und es gab die industrielle Vernichtung. Die Anwendung von Gewalt ist ein weiteres Kriterium: In den von Deutschen verwalteten Lagern ging sehr direkt Gewalt von den Bewachern aus. Das gibt es in Transnistrien auch, aber es scheint nicht überhand zu nehmen.
Die Rolle der Profiteure ist eine sehr starke: Es haben sich viele Menschen bereichert, durch Tauschhandel, durch den Verkauf von Waren zu Fantasiepreisen. Politisch haben wir auch eine andere Situation, weil Marschall Antonescu, Hitlers verbündeter in Rumänien, keine eindeutige Linie hat. Man findet von ihm Aussagen, in denen er eine "Endlösung" fordert, aber es finden sich auch gegenteilige Äußerungen von ihm. Das macht dem heutigen Rumänien den Umgang mit ihm sehr schwer. Von manchen wird er sogar als "Retter der rumänischen Juden" präsentiert. Diese Interpretation ist meines Erachtens völlig falsch und völlig revisionistisch!
Schwarze Milch als Chiffre für die totale Hoffnungslosigkeit
Sie haben nun jene 213 Briefe, die ihr ukrainischer Kollege Serhij Osatschuk im Archiv von Chernivtsi gefunden hat, herausgegeben. Als Titel haben Sie die Metapher "Schwarze Milch" gewählt, die mit Paul Celans Werk "Todesfuge" Berühmtheit erlangte. "Schwarze Milch" steht, so eine gängige Interpretation, für die vollkommene Hoffnungslosigkeit der Lagerinsassen, dafür, das alles, selbst etwas so Gutes, Reines wie Milch, vergiftet scheint. Warum haben Sie diesen Titel für die Briefe gewählt?
Ich finde, die Todesfuge von Celan ist DIE Auseinandersetzung mit dem Holocaust schlechthin. Ich habe den Titel gewählt, weil Celan aus der Region stammt, weil er selbst betroffen war. Er war nicht in Transnistrien, sondern in einem anderen Arbeitslager. Seine Mutter ist auf dem Weg nach Transnistrien erschossen worden. Sein Vater ist in Transnistrien sehr rasch an Typhus verstorben. Die "schwarze Milch" spricht wie kaum eine andere Wendung für die Notsituation, die auch aus den Briefen spricht, die auf allen Ebenen präsent ist.
Die 213 Briefe aus den Lagern sind verzweifelte Hilferufe, adressiert an Freunde, Verwandte und Bekannte, um Geld, Medikamente, Nahrungsmittel, warmer Kleidung. Was macht für Sie das Wesen der Briefe aus?
Was diese Briefe ausmacht, ist, dass es sich um ein vergessenes Kapitel des Holocaust handelt, das im europäischen Gedächtnis nicht präsent ist. Wir haben ein extrem persönliches, direktes Bild, das wir so aus den anderen Lagern nicht kennen.
Hingekritzelt und kaum lesbar
Wir sehen hier Einzelschiksale: Wir sehen, womit die Menschen konfrontiert waren, wie es ihnen gelang, zu überleben oder eben zum größten Teil nicht zu überleben. Wir sehen die individuellen Probleme des Briefeschreibers und in der Summe sehen wir, was in der Region wirklich passiert ist. Soweit mir bekannt ist, gibt es solche Briefe aus den Lagern sonst höchstens ganz vereinzelt, aber nicht in vergleichbarem Umfang.
Wie groß die Not war, zeigt sich schon an den Briefe als solchen: Sie sind zum Teil mit drei, vier Stiften geschrieben, teils auf Papierfetzen geschrieben.
Die Materialität ist ein wesentliches Merkmal. Die Briefe sind mit Tinte, Bleistift, Kugelschreiber geschrieben, einige auch Kohlestiften. Auf Papierfetzen, Postkarten, Einkaufslisten des Lagers, Eisenbahnfahrpläne. Die Menschen haben alles Papier verwendet, was sie irgendwie bekommen konnten.
Gibt es einen Brief, der Sie besonders berührt hat?
Es gibt einen Brief von einer Dame namens Betty Zeiger, die Hauslehrerin für eine wohlhabende Familie war. Im ersten Teil des Briefes ist er den anderen sehr ähnlich: Sie bittet die Familie um Hilfe, Geld, Lebensmittel. Im zweiten Teil wendet sie sich an das Kind, das sie in der Stadt unterrichtet hat, versucht, ihm die Situation zu erklären, warum sie nicht mehr unterrichtet, warum sie nicht mehr das ist. Dieser Brief war emotional für mich einer der schwersten.
Zum Weiterlesen:
Benjamin M. Grilj (Hrsg.): Schwarze Milch. Zurückgehaltene Briefe aus den Todeslagern Transnistrien, Studienverlag, Inssbruck 2013, ISBN: 978-3-7065-5197-7, 1080 Seiten, gebunden