"Feindeslisten" gab es schon vor dem NSU
6. August 2018Das Timing ist wahrscheinlich Zufall. Keine drei Wochen nach dem Ende des Prozesses gegen die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) wurde bekannt, dass Sicherheitsbehörden bei Razzien und Festnahmen seit 2011 "Feindeslisten" mit rund 25.000 Namen und Kontaktdaten gefunden hätten. Darauf sammeln Rechtsextremisten ihnen missliebige Politiker, jüdische Einrichtungen, aber auch Journalisten. Wer konkret in diesen auch als "Todeslisten" bezeichneten Notizbüchern oder Dateien landet, wird selten bekannt. Sicherheitsbehörden haben kein großes Interesse, dieses heikle Thema an die große Glocke zu hängen.
Die Zahl 25.000 stammt auch nicht aus Pressemitteilungen des Bundeskriminalamtes (BKA) oder der Landeskriminalämter (LKA), sondern aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Deutschen Bundestag. Allzu ergiebig ist das Schreiben aus dem Justizministerium ansonsten nicht. Was die Zurückhaltung der Behörden zu bedeuten hat, ist schwer einzuschätzen. Ein kleiner Hinweis findet sich im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen den Terrorverdächtigen Franco A., dessen Fall 2016 für Aufsehen sorgte.
Das Bundeskriminalamt erstellt Gefährdungsanalysen
Bei dem ehemaligen Bundeswehrsoldaten und zwei Komplizen, die Anschläge auf Politiker geplant haben sollen, seien schriftliche Unterlagen mit 32 Personen oder Örtlichkeiten gefunden worden. "Das BKA hat zeitnah Gefährdungsbewertungen erstellt und den für die Gefahrenabwehr zuständigen Ländern übermittelt." Demnach hat das BKA 2017 drei Personen darüber informiert, dass sie auf einer "Feindesliste" stünden. Namen werden nicht genannt. Ob womöglich weitere Betroffene von anderen staatlichen Stellen eine Nachricht erhalten haben, geht aus der Antwort, die der Deutschen Welle vorliegt, nicht hervor.
In Medien-Berichten wurden hingegen schon 2017 Namen von Politikern genannt. Die bekanntesten sind Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Heiko Maas (SPD), Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow (Linke) und die Vize-Präsidentin des Bundestags, Claudia Roth (Grüne). Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland soll auf der Liste stehen, der Zentralrat der Muslime und die gegen Rassismus engagierte Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin.
Alle bekannten Listen umfassen sogar 35.000 Namen
Im Vagen und Allgemeinen bleibt die Regierung auch im Fall der rechtsextremen Gruppe "Nordkreuz", gegen die der Generalbundesanwalt ermittelt. Bei Durchsuchungen im August 2017 und April 2018 wurden die auf Nachfrage der Linken bekannt gewordenen Listen mit 25.000 Namen gefunden. Rechnet man die im Ermittlungsverfahren gegen den NSU entdeckten 10.000 Namen dazu, sind es sogar 35.000. Mehr scheinen Sicherheitsbehörden und Justiz nicht zu wissen. Seit 2011, als der NSU aufflog, habe die Bundesanwaltschaft im Bereich Rechtsextremismus "keine Listen mit Namen von Politikern und Politikerinnen" sichergestellt.
Dass deutsche Sicherheitsbehörden schon vor dem Auffliegen des NSU Informationen über rechtsextreme Listen mit Anschlagzielen hatten, darauf lassen unter anderem Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses Thüringen schließen. Aus diesem Bundesland stammt die zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte NSU-Terroristin Beate Zschäpe; auch ihre toten Freunde Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos waren Thüringer.
"Das Wort Todesliste ist schon ein Begriff"
Im Untersuchungsausschuss des Landes berichtete ein LKA-Polizist über die Vernehmung eines Informanten aus der rechten Szene in den 1990er Jahren: "Das Wort Todesliste ist schon ein Begriff und kursiert auch, aber Genaueres weiß ich nicht", soll der Informant gesagt haben. Der Staatsschutz sei "ziemlich genau aufgeklärt". Wussten staatliche Stellen also mehr über solche Listen, als sie zugeben wollen? Handfeste Belege gibt es dafür nicht, aber durchaus plausibel anmutende Spekulationen.
Ein Name, der in diesem Zusammenhang immer wieder fällt und der auch im NSU-Prozess eine Rolle spielte, ist Tino Brandt. Der langjährige V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes bewegte sich im Umfeld des 1998 untergetauchten NSU-Trios Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Brandt soll oft vom "Tag X" gesprochen, berichtete der LKA-Beamte im Untersuchungsausschuss unter Verweis auf seine Quelle im rechten Milieu. Mit "Tag X" sei ein "nationalsozialistischer Volksaufstand" gemeint gewesen. Dass dabei nach historischem Vorbild mutmaßliche Gegner, als "Feinde", ausgeschaltet werden sollen, ist eine nahe liegende Vermutung.
Kein hinreichender Tatverdacht im Fall Franco A.
Letztlich aber kann wohl niemand die tatsächlich von "Feindeslisten" ausgehende Gefahr richtig einschätzen. Wie schwer es ist, Beschuldigten etwas nachzuweisen, zeigt der Fall Franco A. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main sieht keinen hinreichenden Verdacht dafür, dass er einen Anschlag vorbereitet hat - trotz der bei ihm gefundenen Liste mit Namen von Politikern und Organisationen. Deshalb wurde im Juni entschieden, kein Verfahren gegen den Ex-Soldaten zu eröffnen.