Die Schatten der Wiedervereinigung
24. August 2022Als die Brandsätze durch die Fensterscheiben fliegen, kommt die Todesangst. Das "Sonnenblumenhaus" brennt. Einhundert Vietnamesen, der Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock und ein Fernsehteam sind gefangen. Es ist der 24. August 1992. Der vierte Tag des rassistischen Pogroms gegen die Bewohner einer Unterbringung für Asylsuchende und vietnamesische Vertragsarbeiter in der ostdeutschen Hafenstadt Rostock. Der Stadtteil Lichtenhagen ist ein dichtbesiedeltes Neubauviertel. Riesige Hochhausblöcke mit dem Charme der untergegangenen sozialistischen Arbeiterrepublik.
Die Unterbringung für Ausländer ist mit bunten Kacheln verziert. Sie haben das Muster einer Sonnenblume. Das Sonnenblumenhaus. Jetzt brennt es. Das Fernsehteam dokumentiert die Schrecken im Haus. Feuer. Beißender Qualm. Verschlossene Türen. Gerenne. Ausweglosigkeit.
"Jetzt werdet ihr gegrillt!"
Vor dem Haus wird gefeiert. "Jetzt werdet ihr gegrillt", ruft der Mob den Eingeschlossenen zu. Tausende Menschen belagern das Hochhaus. Neonazis und Nachbarn. Jung und alt. Männer und Frauen. Jeder Brandsatz, der das Feuer anheizt wird bejubelt. Hitlergrüße. Reichskriegsflaggen. Bierseligkeit. Ein Politiker versucht die Lage zu beruhigen: "Leute, das sind doch Menschen!" Die Antwort wird ihm ins Gesicht gebrüllt: "Das sind keine Menschen!"
Die Polizei ist weg. Abgezogen. Und die Feuerwehr kommt nicht durch zum lichterloh brennenden Wohnhaus der Eingeschlossenen. Die feixende Menge versperrt den Einsatzkräften die Durchfahrt. "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!", brüllen sie. Der Staat hat dem Hass die Herrschaft überlassen. Nur durch ein Wunder kommt niemand ums Leben.
"Das war für mich erschütternd", erinnert sich Hajo Graf Vitzthum von Eckstädt. Er engagiert sich im Rostocker Verein "Bunt statt braun". Die überparteiliche Initiative kämpft gegen Rechtsextremismus und seinen Nährboden. "Es war einer dieser Exzesse, die passieren mussten. Die Bundes- und Landesregierung hatten versagt." Vitzthum von Eckstädt wühlen die Ereignisse bis heute auf. Rostock-Lichtenhagen war das erste Pogrom nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Für ihn steht fest, dass die Politik in Rostock nicht einfach nur wegschaute: "Die Politik hat das Ereignis benutzt."
Umbruchzeiten
Deutschland erlebte Anfang der 90-iger Jahre turbulente Zeiten. Helmut Kohl regierte das Land seit zehn Jahre. Nach dem schwarz-rot-goldenen Rausch der Wiedervereinigung 1990, folgte der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft. Und dann der ganzen ostdeutschen Gesellschaft. Gleichzeitig erlebte das Land einen starken Anstieg an Einwanderung. Denn mit dem Fall der Mauer fiel auch der Eiserne Vorhang des Kalten Krieges: hunderttausende Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Osteuropa zog es in der Folge nach Deutschland.
Das gesellschaftliche Klima war aber schon länger aufgeheizt. Rechtsextreme Skinheads versuchten sowohl im Westen als auch im Osten die Straßen zu erobern. Überall im Land gab es gewalttätige Übergriffe. "Es gab damals viel Abwehr gegen Ausländer und Einwanderer, gegen Sinti und Roma", erinnert sich Hajo Graf Vitzthum von Eckstädt. "Und die Politik hat das damals explodieren lassen - aus eigenen Interessen."
Denn die Regierung Kohl arbeitete schon länger an einer drastischen Verschärfung des deutschen Asylrechts. Das war 1949 aus den Lehren der nationalsozialistischen Diktatur entstanden und bot politisch Verfolgten dauerhaften und uneingeschränkten Schutz. Und es wurde in der Verfassung festgeschrieben.
Politische Beobachter mutmaßten schon damals, dass die konservative Bundesregierung die Ausschreitungen und Proteste nutzen wollte, um Druck auf die Sozialdemokraten auszuüben, damit sie einer Verfassungsänderung zur Einschränkung des Asylrechts zustimmen. Das unterstellte Kalkül: aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen würden die konkurrierenden Sozialdemokraten dem Hass des Mobs und dem politischen Druck nachgeben.
Kalkulierter Rassismus?
In Rostock ließ die Politik alles explodieren. Und schaute lange Zeit zu. In den Monaten vor dem Pogrom strandeten Sinti und Roma aus Rumänien vor der Aufnahmestelle für Asylsuchende im Stadtteil Lichtenhagen, also vor dem Sonnenblumenhaus. Die Behörden waren überfordert mit der Aufnahme, so dass die Menschen vor der Einrichtung in den Grünanlagen kampieren müssen. Aber die Stadt weigerte sich, darauf zu reagieren. Mobile Toiletten werden nicht aufgestellt. Die Politik verdammte die ankommenden Rumänen damit dazu, beschimpft und angefeindet zu werden.
Für den Antiziganismus-Beauftragten der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler, steht Rostock-Lichtenhagen damit auch in einer verheerenden Tradition der Diskriminierung der Sinti und Roma in Deutschland. Auch, weil der hundertausendfache Mord an ihnen in der NS-Zeit nie wirklich aufgearbeitet worden sei. "Ihre Verfolgung ist nach der NS-Zeit in anderer Form weitergegangen."
Wiedervereinigung - nicht für Migranten
Mehmet Daimagüler kämpft seit Jahren gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Als Strafverteidiger, Buchautor und Publizist. Auch ihn hat das Pogrom im Jahr 1992 erschüttert. "Es hat einen Schatten über die Freude über die Wiedervereinigung gelegt."
Er erlebt, was viele Deutsche aus Einwandererfamilien erleben: das ihnen ihre deutsche Heimat abgesprochen wird. Dass der nationale Jubel über die Wiedervereinigung Hand in Hand geht mit einer neuen Qualität von Rassismus und Hass gegen einen Teil der Gesellschaft. "Die Wiedervereinigung war von Deutschen für Deutsche, und wir Migranten gehörten nicht dazu. Wir saßen an keinem der Runde Tische – weder im Westen noch im Osten. Wir wurden so behandelt, wie wir gesehen wurden: Wir waren irrelevant."
Einwanderer wurden 1992 meist noch pauschal als Ausländer abgestempelt, auch wenn Deutschland ihre Heimat war und sie hier geboren wurden. Es galt das Blutsrecht, das sogenannte "Ius Sanguinis": Deutscher ist nur, wer deutsche Eltern hat. Blut und Boden.
Listicle: Deutschlands Migrationsgeschichte
Als einer der ersten Vertreter der Zivilgesellschaft ist damals Michel Friedman vor Ort. Er ist damals Generalsekretär des Zentralrats der Juden. Er begleitet dessen Präsidenten, Ignatz Bubis. Beide sind entsetzt. "Vor Ort trifft einen die Wucht der Schuld so vieler, die das nicht verhindert haben." Es kommt zu einem Eklat. Ein christdemokratischer Stadtrat aus Rostock spricht Bubis und Friedman ihre deutsche Heimat ab. Weil sie Juden sind. "Wir reden in Deutschland ja immer vom 'Nie Wieder!', und dann kommst Du an einen Ort, wo alle wegschauen. Auch die Polizei, auch die Politik." Heute arbeitet Michel Friedman als Rechtsanwalt und Publizist und auch für die Deutsche Welle.
Aufstieg der "Menschenhasser"
Was hat Deutschland in den dreißig Jahren seit des Pogroms gelernt? "Was sich verbessert hat", bilanziert Michel Friedman, "ist, dass sich die Zivilgesellschaft für die Würde des Menschen einsetzt." Dem stimmt auch Hajo Graf Vitzmuth von Eckstädt zu. Aber die Skepsis ist riesig, auch bei Mehmet Daimagüler: "Wenn die Gesellschaft gelernt hätte, dann hätten wir nicht die vielen Toten nach dem rassistischen Anschlag in Lübeck 1996, wir hätten nicht die Mordserie des selbsternannten 'Nationalsozialistischen Untergrunds', wir hätten nicht die rechtsextremen Anschläge in München 2016 und in Hanau 2020."
Viele Menschen in Deutschland seien weiter in Gefahr, denn, so Michel Friedman, "die Menschenhasser sind mächtiger als 1992." Mit der AfD habe sich eine Partei etabliert, die immer offener ihre rechtsextreme Gesinnung zeige: "Die Wölfe haben den Pelz abgelegt."Machtkampf in der AfD - Deutschland rechtsaußen
Die Folgen des Pogroms haben Deutschland bis heute verändert: Am 29. Mai 1993 stimmt der Bundestag für eine weitreichende Einschränkung des Asylrechts. Es ist die kalte Antwort auf Rostock-Lichtenhagen. Drei Tage später ermorden Neonazis fünf Menschen türkischer Abstammung in der Stadt Solingen. Sie legen einen Brandsatz in das Haus.