Planung des Grauens
19. Januar 2012Am Mittag des 20. Januar 1942 trafen sich im Berliner Villenvorort Wannsee 15 hochrangige Vertreter des NS-Staates. Die SS-Offiziere, Staatssekretäre und Spitzen der NS-Verwaltung waren jung (die Hälfte unter 40 Jahre alt), gebildet (jeder zweite besaß den Doktortitel) und ehrgeizig. Eingeladen in das noble Gästehaus "Am Großen Wannsee" des Sicherheitsdienstes der SS hatte Reinhard Heydrich, Chef des gefürchteten Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Auf der Tagesordnung stand, in bürokratische Formeln und euphemistische Begriffe gehüllt, der Völkermord an den europäischen Juden. Alle wichtigen Institutionen im NS-Staat hatte Heydrich berücksichtigt und ihre Vertreter in die Industriellenvilla bestellt.
"Endlösung der Judenfrage"
Bis heute wird in der Öffentlichkeit immer wieder die Auffassung vertreten, auf der Wannsee-Konferenz sei die sogenannte "Endlösung der Judenfrage" beschlossen worden, also der fabrikmäßige Mord an den europäischen Juden. "Wenn man bedenkt, wie viele Hunderttausende sowjetische Juden vor der Wannsee-Konferenz umgebracht worden sind, dann ist diese Annahme brüchig", argumentiert dagegen der Historiker Michael Wildt, der an der Berliner Humboldt Universität am einzigen Lehrstuhl für die Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland lehrt. Wildt weist daraufhin, dass SS-Einsatzgruppen bereits im Juni 1941 mit der systematischen Ermordung von Juden begonnen hatten - also bereits sechs Monate vor der Wannsee-Konferenz.
500.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer waren in den besetzten sowjetischen Gebieten den Erschießungsaktionen zum Opfer gefallen: "Der Krieg gegen die Sowjetunion bedeutete eine radikale Zäsur in der Verfolgungspolitik und die bisherige Politik, die Juden zu vertreiben, zur Emigration zu zwingen, konnte nicht mehr fortgesetzt werden", so der Historiker. "Das NS-Regime hatte durch die militärischen Eroberungen Millionen Juden in seinem Machtbereich, und auch die Pläne, sich dieser Juden zu entledigen, wurden entsprechend monströser, gigantischer."
Die 16. Abschrift
Auf der Wannsee-Konferenz musste also nichts mehr "beschlossen" werden. Und auch in der 1947 aufgefundenen einzigen Protokollabschrift der Konferenz (der 16. von insgesamt 30) stand nichts von einem solchen Beschluss. Was war also Sinn und Zweck jener Besprechung, die zunächst in einem Haus der deutschen Interpol-Sektion geplant war, dann aber in einer prunkvollen Villa am Berliner Wannsee abgehalten wurde? Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich sollte die Aktivitäten aller für den Holocaust zuständigen deutschen Dienststellen koordinieren. Sein Ziel war es, die Anwesenden auf der Wannsee-Konferenz über diesen Auftrag zu informieren, seine eigene Federführung festzuschreiben und sich der Mithilfe aller Ministerien zu versichern.
Historiker Wildt glaubt deshalb, dass Heydrich den Konferenzteilnehmern verdeutlichen wollte, dass seine Behörde für die sogenannte "Endlösung der Judenfrage" verantwortlich war und sie Mordaktionen bereits vorbereiten ließ. Dafür sollte ferner die Zusammenarbeit der wichtigsten Instanzen des NS-Staates gesichert werden – etwa des Auswärtigen Amtes oder des Verkehrministeriums, um den Eisenbahntransport der Deportierten zu gewährleisten.
Persönlicher Machtgewinn
Für Heydrich persönlich bedeutete die "Judenfrage", wie es im Sprachgebrauch des NS-Staates hieß, einen Zugewinn an Macht innerhalb der nationalsozialistischen Hierarchie. Hauptzweck der Wannsee-Konferenz war es deshalb, seine "Bestellung zum Beauftragten für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage" offiziell bekanntzugeben. So steht es im ersten Satz des Wannsee-Protokolls. Das war es, was Heydrich seit langem hatte werden wollen: Reichskommissar für die sogenannte "Endlösung". Denn als Heydrich 1936 im Alter von 32 Jahren zum Chef der Sicherheitspolizei aufgestiegen war, konnte er in seiner politischen Laufbahn nicht viel mehr werden. Über ihm stand nur noch Heinrich Himmler und der war nur vier Jahre älter.
Terminologie des Todes
In seiner einführenden Rede auf der Wannsee-Konferenz betonte Heydrich den Zweck der Zusammenkunft: Klarheit zu schaffen über den industriell geplanten Mord an sechs Millionen Juden. Natürlich konnte Heydrich auf Begriffe wie Totschlagen, Vergasen oder Erschießen verzichten. Die 15 Konferenzteilnehmer waren schlaue junge Männer, jedenfalls wussten sie genau, was mit Hüllwörtern wie "Aussiedlung", "Endlösung", "Sonderbehandlung" oder "Evakuierung" gemeint war. Getreu einer Liste, auf der Heydrich die Zahl der jüdischen Bewohner in den einzelnen Staaten hatte zusammenstellen lassen, sollte Europa "von Westen nach Osten durchkämmt werden". So jedenfalls steht es im Protokoll der Wannsee-Konferenz.
Einige Konferenzteilnehmer behaupteten nach dem Ende des NS-Regimes, sie hätten nicht gewusst, was mit der Formulierung "Endlösung der Judenfrage" gemeint gewesen sei. Tatsächlich aber waren fast alle Staatssekretäre nachweisbar über die Deportationen und Mordaktionen unterrichtet und die Vertreter der SS zudem direkt in die Verbrechen verwickelt.
Auf der knapp zweistündigen Wannsee-Konferenz wurde wenig diskutiert, im Grunde nur über eine einzige, aber für Millionen Menschen todbringende Frage: Wer sollte überhaupt als Jude gelten? Wo lag die Trennlinie zu den Halb- und Vierteljuden? Und wie sollte mit Mischehen und deren Nachkommen verfahren werden? Es war die zynische Denkweise von Bürokraten: Dabei sprachen die Konferenzteilnehmer ganz offen über die verschiedenen Techniken des Massenmordes. Einig war man sich auch in der Zahl der potenziellen Opfer: Elf Millionen Juden sollten der "Endlösung" zugeführt werden, wie es im verniedlichenden Sprachgebrauch des NS-Regimes hieß.
Konferenz ohne Diskussionen
Natürlich bestanden auf der Konferenz unterschiedliche Auffassungen, nicht im Grundsätzlichen, eher im organisatorischen Detail: Der Vertreter des Auswärtigen Amtes plädierte dafür, die Deportationen in jenen Ländern zu beginnen, wo sie ohne große Schwierigkeiten möglich waren. Der Staatssekretär des Reichsinnenministeriums forderte für sogenannte "Mischlinge" die Zwangssterilisation an Stelle der Deportation. Der Staatssekretär des Beauftragten für den Vierjahresplan sprach sich für eine vorläufige Zurückstellung jüdischer Facharbeiter in kriegswichtigen Betrieben aus. Und der Stellvertreter des Generalgouverneurs in Krakau äußerte die dringende Bitte, mit der "Endlösung" bei den polnischen Juden zu beginnen.
Heydrich war mit den Ergebnissen der Wannsee-Konferenz hoch zufrieden. Er hatte zu Beginn mit Bedenken und Einwänden der Ministerien gerechnet. Tatsächlich stieß er mit seinem Programm der "Endlösung" auf allgemeine Zustimmung und die Bereitschaft, bei der Umsetzung mitzuwirken. Am Ende der Besprechung befanden sich die Teilnehmer in Hochstimmung, lebhaft und freudig waren sie den Ausführungen Heydrichs gefolgt. Davon berichtete nach Kriegsende Adolf Eichmann dem Jerusalemer Gericht.
Der grauenvolle Plan, auf den die Organisatoren und Verwalter des Todes am Ende mit einem Cognac anstießen, ging auf: Sechs Millionen Juden wurden vergast, erschossen, erhängt oder durch schwerste Arbeit zu Tode gefoltert. Auch wenn die Wannsee-Konferenz zuallererst der persönlichen Machterweiterung Reinhard Heydrichs diente, so ist ihr Name mit dem fabrikmäßigen Morden verbunden, an dem nicht nur die SS beteiligt war, sondern auch Teile der Polizei, der Wehrmacht, von Behörden und Industriebetrieben. Heute beherbergt die Villa "Am Großen Wannsee" eine nationale Gedenk- und Bildungsstätte.
Autor: Michael Marek
Redaktion: Monika Dittrich