75 Jahre NATO: Wie steht es um das Militärbündnis?
4. April 2024Die NATO ist die älteste und weltweit einzige militärische Allianz aus demokratischen Staaten. Und sie ist immer attraktiv. 1949 startete das Bündnis mit 12 Mitgliedern. Heute hat es 20 mehr. Jüngst traten Finnland und Schweden bei, weil sie Schutz vor Russland suchen. Der Ukraine und Georgien ist der Beitritt zugesagt, aus dem gleichen Grund. Die Erweiterung der NATO nach Osten begann vor 25 Jahren mit ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Paktes, also des aufgelösten Militärbündnisses des Ostblocks: Das waren Polen, Tschechien und Ungarn.
Damals, zum 50. Geburtstag der NATO, herrschte Aufbruchstimmung. Den Kalten Krieg wähnte man gewonnen. Russland wurde als Partner angesehen. Moskau hatte 1997 vertraglich zugesichert, keine Einwände gegen eine Osterweiterung zu erheben. Als Mitglieder folgten 2004 die baltischen Staaten, die Slowakei, Slowenien, Bulgarien und Rumänien. 2009 traten Albanien und Kroatien der Allianz bei. 2017 und 2020 nahm die NATO mit Montenegro und Nordmazedonien weitere Teile des ehemaligen Jugoslawiens auf.
Russland sagt Nein
Der russische Präsident Wladimir Putin begann Anfang der 2000er Jahre, den Ostkurs der NATO zu kritisieren. Er behauptete: Als die ehemalige DDR durch die deutsche Wiedervereinigung 1990 in das Bündnis aufgenommen wurde, sei der Sowjetunion versprochen worden, dass die NATO sich nicht in den ehemaligen sowjetischen Einflussbereich ausdehnen werde. Schriftlich wurde dies jedoch nie festgelegt. Moskau unterschrieb 1997 die Russland-NATO-Akte, die solche Zusagen nicht enthält.
2008 versprach die NATO Georgien und der Ukraine im Prinzip die Mitgliedschaft. Spätestens da legte Putin einen strategischen Schalter um. Teile Georgiens brachte er unter russische Kontrolle, 2014 annektierte Russland die ukrainische Krim und unterstützte in der Ostukraine Separatisten. Dann folgte 2022 der Angriff auf die gesamte Ukraine. Die NATO hält die Tür für weitere Beitritte trotzdem offen. Oder gerade deswegen?
Zweifel an den USA
Im Grunde ist die Lage so wie vor 75 Jahren bei der Gründung der NATO am 4. April 1949 in Washington. Der wachsenden Bedrohung aus dem Osten will der freie Westen militärisch mit gegenseitigem Beistand begegnen - unter dem Schirm der Nuklearwaffen der USA. Kalter Krieg reloaded.
"Was die Bedrohungssituation angeht und die Reaktion der NATO, scheint alles so zu sein wie damals. Kollektive Verteidigung ist wieder die Kernaufgabe. Daran gibt es gar keine Zweifel", sagt Matthias Dembinski vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Der entscheidende Unterschied zu 1949 sei aber, dass es starkes Misstrauen gegenüber der NATO-Führungsnation USA gebe. Sollte der nächste US-Präsident Donald Trump heißen, könnte die bisher geltende Beistandsformel hinfällig werden. "Die Aufgabe, die dann im schlimmsten hypothetischen Fall auf die Europäer zukäme, wäre eine zweifache", so Matthias Dembinski. "Nämlich die politische Führungsleistung der USA zu kompensieren und ebenso die militärischen Beiträge, die die USA bisher in die NATO eingebracht haben. Das ist eine Herkulesaufgabe. Ob das gelingt, ist alles andere als klar."
Energiegeladen auch mit 75?
Der amtierende US-Präsident Joe Biden beschwört die Beistandsformel des Artikels 5 der NATO-Charta als "heilig und unverbrüchlich". Danach ist ein Angriff auf ein Mitglied ein Angriff auf alle. Beim NATO-Gipfel 2023 im litauischen Vilnius beschrieb er den Zustand des nordatlantischen Bündnisses so: "Heute ist unsere Allianz ein Bollwerk für globale Stabilität und Sicherheit, so wie sie es seit über sieben Jahrzehnten war. Die NATO ist stärker, energiegeladener und geeinter als jemals zuvor."
Die Konfrontation mit Russland und die Unterstützung für die Ukraine schweißt die Allianz derzeit zusammen, beobachtet auch der Konfliktforscher Matthias Dembinski im Gespräch mit der DW. Mit nunmehr 32 Mitgliedern und ihren teils widerstrebenden Interessen ist die Allianz nicht ständig in Geburtstagslaune. "Die NATO hat erhebliche Trägheitseffekte. Und das kann so ein Bündnis auch immer wieder vor eine existenzielle Herausforderung stellen", meint Matthias Dembinski. "Das Interessante bei der NATO ist eigentlich, dass sie bisher alle ihre Krisen irgendwie überstanden hat - und die sind schwer gewesen. Die NATO war bisher erstaunlich anpassungsfähig."
Boris Pistorius: Steuer herumreißen
Die Herausforderung für die NATO heute sei, von internationalen Einsätzen wieder auf die vernachlässigte Verteidigung des eigenen Gebiets umzustellen, meint der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius im Interview mit dem Studio Brüssel der Deutschen Welle. Zurück zu den Wurzeln, und zwar zügig. "Wir reißen das Steuer gewissermaßen in voller Fahrt herum. Die Fahrtrichtung internationale Kriseneinsätze, Auslandsmissionen stoppen wir jetzt. Wir müssen den Schub umkehren, wieder in Richtung Landes- und Bündnisverteidigung. Das braucht einen Moment. Da sind wir gerade dabei und das wird dynamisch, wie ich das wahrnehme."
Die Zukunft der NATO werde vom Ausgang des Krieges Russlands gegen die Ukraine abhängen, obwohl sie selbst noch gar kein Mitglied ist. Das sei eine Frage der Glaubwürdigkeit für die Allianz, meint der ehemalige leitende NATO-Sprecher und Kommunikationsdirektor Jamie Shea. "Selbst wenn die Ukraine es schafft, Russland zu besiegen und ihr Territorium zu befreien, wird Russland boshaft und rachsüchtig bleiben. Es wird die NATO nicht lieben. Unglücklicherweise wird Russland für viele Jahre die größte Bedrohung für die NATO bleiben."