Abkehr vom Mutterland
15. Oktober 2012"Rule, Britannia! - aber nicht bei uns!" So ähnlich könnte der Slogan der schottischen Unabhängigkeitsbewegung lauten. Nach mehr als 300-jähriger Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich von Großbritannien sollen die Schotten 2014 in einer Volksabstimmung über ihre Selbstständigkeit abstimmen dürfen. Eine entsprechende Vereinbarung haben der britische Premierminister David Cameron und der Chef der schottischen Regionalregierung, Alex Salmond, unterzeichnet. Mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit befinden sich die Schotten in guter europäischer Gesellschaft.
Reiche Regionen wollen raus
Es sind vor allem wirtschaftliche starke Regionen in Europa, die sich von ihrem jeweiligen Mutterland trennen wollen: So erwirtschafteten im Jahr 2009 laut der Statistikbehörde eurostat die nach Unabhängigkeit strebenden Regionen Katalonien und das Baskenland fast ein Viertel des spanischen Bruttoinlandprodukts (BIP), obwohl sie weniger als zehn Prozent der Landesfläche ausmachen. Der gut aufgestellte italienische Norden mit Südtirol und der Metropolregion Mailand will nicht länger den wirtschaftlich schwachen Süden mitfinanzieren. Und auch die Schotten möchten die Erlöse aus der Erdölförderung lieber selbst behalten.
Besonders gravierend ist die Situation in Belgien, wo flämische Separatisten immer vehementer fordern, sich vom französischsprachigen Süden zu lösen. Flandern umfasst zwar nur ein Drittel der Fläche, ist aber für fast 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts des Landes verantwortlich.
Viele Gründe für Eigenständigkeit
Neben wirtschaftlichen Gründen gebe es für den Wunsch nach Unabhängigkeit eine Vielzahl von weiteren Argumenten, sagt Professorin Silke Göttsch-Elten, Ethnologin an der Universität Kiel. Sie alle dienen dazu, die eigene Identität zu definieren: "Sprache, gemeinsame Geschichte, oder das, was im Großen als Kultur bezeichnet wird". Religion könne dabei eine große Rolle spielen, aber auch geografische Aspekte, ob eine Region zum Beispiel am Rand oder im Zentrum eines Landes liegt.
Die Unabhängigkeitsbewegungen im westlichen und südlichen Europa wollen vor allem die Eigenständigkeit ihrer jeweiligen Volksgruppe bewahren. Doch das allein berechtigt sie nach internationalem Recht nicht zur Sezession, sich also gegen den Willen ihres Mutterlandes für selbstständig zu erklären, stellt Professor Christian Hillgruber von der Universität Bonn klar: "Da sind sich die Völkerrechtler weitgehend einig - es sei denn es ist zu einer grob menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zum Genozid gekommen, wie es im Kosovo der Fall war". In der damals zu Serbien gehörenden Provinz waren 1998/99 Zehntausende im Kampf zwischen serbischen Truppen und der Rebellenarmee UCK ums Leben gekommen.
Bei der Aufspaltung der ehemaligen Tschechoslowakei in die Tschechische Republik und die Slowakei war das anders. Dieser Schritt wurde 1993 in beidseitigem Einvernehmen friedlich und geräuschlos vollzogen und ergab zwei eigenständige Staaten.
Ein bisschen selbstständig
Obwohl es auch in europäischen Ländern wie Spanien und Irland immer wieder zu Anschlägen separatistischer Gruppen kommt, erwartet der Völkerrechtler Christian Hillgruber in Europa keine schwerwiegenden Verwerfungen wie bei jahrelangen Unabhängigkeitskriegen in anderen Teilen der Welt, etwa in Eritrea, in Osttimor oder im Sudan.
Bei der Trennung vom Mutterland, wie sie zum Beispiel Schottland anstrebt, sieht er die Probleme an ganz anderer Stelle: "Natürlich wird man über die, wenn man so will, Scheidungsfolgen zu reden haben, insbesondere die Verteilung des Vermögens und der Schulden: Schottland wird nicht in die Unabhängigkeit entlassen werden, wenn es nicht auch die Schulden des Vereinigten Königreichs zum Teil mit übernimmt." Deshalb werde es möglicherweise darauf hinauslaufen, dass die Schotten sich dann doch damit begnügen werden, etwas mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit von London zu bekommen, ohne sich aber komplett aus dem Vereinigten Königreich zu verabschieden.