Abnehmspritze Ozempic: Schluss mit Body Positivity?
9. September 2024"She doin' Ozempic, tryna be different" (auf Deutsch: Sie macht in Ozempic, versucht, anders zu sein), rappt der US-Sänger Travis Scott. Von populären Songs über Comedy-Sketche bis hin zu Laufstegshows: Das Diabetes-Medikament Ozempic erobert Hollywood. Oprah Winfrey, Stephen Fry, Kelly Clarkson, Elon Musk und andere Prominente haben sich schon zur Einnahme bekannt - die "magische" Injektion soll nämlich beim Abnehmen helfen.
Die steigende Popularität von Ozempic geht Hand in Hand mit dem Comeback der "Y2K"-Kultur, der die Nostalgie der Millennials in Mode, Popkultur und Musik verkörpert und an damalige Vorbilder wie Paris Hilton, Britney Spears, Christina Aguilera oder Kate Moss erinnert. Neben den tiefsitzenden Jeans, Bauchnabelpiercings und Miniröcken prägte damals der Schlankheitswahn die "Heroin-Chic"-Ära.
Hilfreiche Medikamente oder neuer Schönheitsdruck?
Ozempic wurde 2017 als Arzneimittel für Diabetes eingeführt. Vor etwa zwei Jahren machten es Influencerinnen in den sozialen Medien bekannt, die ihre Erfahrungen mit ungewöhnlich schnellen Gewichtsverlusten teilten. Heute verzeichnet der Hashtag #ozempic Millionen von Klicks auf TikTok und Instagram.
Inzwischen wird die Injektion nicht mehr nur von Menschen verwendet, die mit Fettleibigkeit oder Diabetes zu kämpfen haben, sondern auch von denen, die einfach nur ein paar Kilos für den Strandurlaub verlieren wollen. Das Medikament wurde so populär, dass es für Diabetespatienten, die es benötigen, immer noch knapp ist. Der dänische Hersteller von Ozempic, der Pharmariese Novo Nordisk, ist heute eines der wertvollsten Unternehmen Europas.
Der Hype um Ozempic
Große Aufregung um Ozempic gab es Anfang Juli während der Berliner Fashion Week, als die Modemarke Namilia ein Model mit einem "I love Ozempic"-T-Shirt über den Laufsteg schickte (Artikelbild). Das provokante Shirt rief viele Reaktionen in den sozialen Medien und der Presse hervor, die die Aktion als "toxisch" und "oberflächlich" bezeichneten.
Khan, ein deutsch-türkisches Plus-Size-Model, das bei Namilias Laufstegshow mitlief (allerdings nicht in dem umstrittenen "I love Ozempic"-Shirt), verstand die Empörung nicht. Sie fand, dass die Botschaft des polemischen Shirts nicht darin bestand, Ozempic zu feiern, sondern vielmehr zu kritisieren, dass die Mode zum "Heroin-Chic" zurückkehrt - einer Ästhetik, die mit mageren, blassen Models wie Kate Moss oder Gia Carangi, einer an AIDS-Komplikationen verstorbenen Heroinkonsumentin, assoziiert wird.
Der eher problematische Begriff "Heroin Chic", der Drogenmissbrauch und Kleidergröße 0 verherrlicht, wurde in den 1990er Jahren geprägt - in Zusammenhang mit dem italienischen Fotograf Davide Sorrenti, dessen Fotografien dazu beitrugen, den Look zu popularisieren: blasse Haut, dunkle Augenringe und eine sehr magere Figur.
Für Khan, die nur ihren Vornamen nennen will, ist "Heroin Chic" ein weiterer Begriff, der aus Körpern Trends macht. "Alle paar Jahre gibt es einen neuen Trend. 'Heroin chic' erlebt gerade ein großes Comeback in der Branche. Vorher war es Body Positivity, aber seit anderthalb Jahren sehen wir wieder weniger kurvige Models auf den Laufstegen", so Khan.
Bye bye Body Positivity?
Als eines der wenigen Plus-Size-Models in der Branche ist Khan persönlich betroffen. "Ich habe oft Jobs zugesagt bekommen, die dann nach der Überprüfung durch das Styling wegen meiner Größe wieder abgesagt wurden, wie es zum Beispiel bei einem traditionellen Pariser Modehaus der Fall war", erzählt sie im DW-Gespräch.
Vor allem in der High-Fashion-Branche, so Khan, würden wieder dünne Models bevorzugt, was an das umstrittene Erbe von Designern wie Karl Lagerfeld erinnere. Lagerfeld ist unter anderem für fettfeindliche Äußerungen wie "niemand will kurvige Models auf dem Laufsteg sehen" oder die Bezeichnung der Sängerin Adele als "ein bisschen zu dick" in Erinnerung geblieben. Der neueste Bericht von Vogue Business bestätigt Khans Beobachtungen: Weniger als ein Prozent der Herbst/Winter-Modenschauen in diesem Jahr zeigten Plus-Size-Models.
Verschiedene Schönheitsideale
Paula-Irene Villa Braslavsky, Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Universität München, ist der Ansicht, dass dünn sein nie wirklich aus der Mode gekommen sei - weder auf den Laufstegen noch auf der Straße.
"Die Gesellschaft hat das Gewicht schon immer bewertet", sagt Braslavslky. "Seit dem späten 19. Jahrhundert ist es eine moralische Frage. Wer übergewichtig ist, gilt als faul, dumm, ungebildet, moralisch verdorben oder uninteressiert." Braslavsky befürchtet, dass Medikamente zur Gewichtsreduzierung wie Ozempic durch ihre Normalisierung das Body-Shaming und die Verurteilung noch verstärken könnten.
"Für Frauen war die Wahrnehmung des 'richtigen' Gewichts schon immer eingeschränkter als für Männer", so Braslavsky. "Die Grenzen sind strenger, weil Frauen traditionell in erster Linie nach ihrem Aussehen beurteilt werden. Zu dünn, zu dick, zu muskulös, zu schön oder nicht schön genug - Frauen werden in jedem Fall kritisiert."
Trotz des Comebacks der "Heroin-Chic-Ära" zeigt sich Khan optimistisch: "Es gibt immer noch Marken, für die Body Positivity nicht nur ein Trend ist", sagt sie und nennt Sinead O'Dwyer, Ed Hardy und Namilia als Beispiele.
"Wenn sie Ozempic wirklich feiern würden, würden sie keine Plus-Size-Models auf den Laufsteg schicken. Und ich war nicht die Einzige", erklärt sie. Ihrer Meinung nach ist Namilia "nur ehrlich, weil sie die Kontroverse um das Medikament hervorhebt, denn leider lieben die Leute Ozempic wirklich". Auf die Frage, ob sie glaube, dass der Ozempic-Hype das Ende der Body Positivity bedeute, antwortet Khan entschieden: "Nein, nicht in einer Million Jahren."
Adaption aus dem Englischen: Rayna Breuer