Hungerkatastrophen
21. Juli 2011Jeden Tag kommen zwischen 1000 und 2000 Flüchtlinge aus Somalia in Dadaab im Norden Kenias an - im größten Flüchtlingslager der Welt. Sie flüchten vor Hunger - und vor einem Staat, der eigentlich gar keiner ist.
"Im Süden Somalias ist die Lage so unübersichtlich, dass es sogar für uns als Helfer zu gefährlich ist, dorthin zu fahren", stellt Ralf Südhoff vom Welternährungsprogramm (WFP, "World Food Programme") fest. In Somalia verbreiten die Rebellengruppen Angst und Terror in der Bevölkerung, verhindern dringend nötige Nahrungsmittellieferungen und machen so jegliche Hilfe von außen unmöglich. Dazu kommt die extreme Dürre. Ergebnis: Viele, die bereits am Existenzminimum und darunter lebten, sind auch noch der letzten Überlebensmöglichkeiten beraubt. Die Knappheit der Nahrungsmittel lässt die Preise in die Höhe schellen - wer nicht zahlen kann, verhungert.
Failed State
"Hirse ist ein ganz wichtiges Nahrungsmittel in Somalia und heute doppelt so teuer wie noch vor kurzer Zeit. Die Menschen haben keine Wahl", beschreibt Ralf Südhoff die verzweifelte Situation vor Ort.
Es gibt jedoch keine Regierung, die man für die Katastrophe in Somalia verantwortlich machen könnte. Denn Somalia, so betont Michael Brüntrup vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), ist das klassische Beispiel für einen Failed State, einen gescheiterten Staat, in dem es weder Regierung noch Verwaltung gibt. Und da, so der Agrarexperte, sind Hungerkatastrophen fast unvermeidbar.
Demokratisierter Hunger
Michael Brüntrup verweist auf den indischen Ökonomen und Nobelpreisträger Amartya Sen. Er hat nachgewiesen, dass akute Hungerkatastrophen in Demokratien kaum noch entstehen. Allerdings kann auch unter demokratisch gewählten Regierungen chronischer Hunger herrschen - das heißt, viele Menschen bleiben unterernährt, aber sie sterben nicht massenweise. Über eine Milliarde Menschen ist weltweit vom Hunger betroffen, erläutert Brüntrup. Mit allen dazu gehörenden Folgen: hohe Kindersterblichkeit, physische und psychische Fehlentwicklung und hoffnungslose Armut.
Was derzeit am Horn von Afrika grassiert, ist jedoch nicht der alltägliche Hunger, sondern eine Hungerkatastrophe biblischen Ausmaßes. Menschen, die auf der Flucht vor Hunger sterben; Kinder, die den oft wochenlangen Fußmarsch zum kenianischen Flüchtlingslager Dadaab nicht schaffen oder die kurz nach der Ankunft sterben, weil sie bereits zu entkräftet sind um zu überleben. Aus Somalia kommen sie oder aus Äthiopien - auch dort kämpft die Regierung einen verzweifelten Kampf gegen den Hunger.
Trotz Armut Hunger bekämpfen
"Äthiopien hat in den vergangenen zehn Jahren enorm viel in den Agrarsektor investiert und jedes Jahr die Zahl der Hungernden um ein bis anderthalb Prozent reduziert. Angefangen allerdings auf einem enorm hohen Niveau", erklärt Michael Brüntrup.
Doch die Mittel reichen nicht. Äthiopien zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, und allein das rasante Bevölkerungswachstum macht es schwer, die Landwirtschaft ausreichend auszubauen und Nahrungsmittelsicherheit zu schaffen. Eine verheerende Dürre wie jetzt lässt sich dann nicht mehr durch Investitionen in die ländliche Entwicklung auffangen. Den Menschen, die wegen der Trockenheit ihr Land oder ihr Vieh verloren haben, bleibt darum nur die Flucht.
Zehn Prozent für die Landwirtschaft
Längerfristig sind konsequente Investitionen in die Landwirtschaft und in die Armutsbekämpfung das einzige, was Hungerkatastrophen wie die jetzige verhindern könnte. Und zwar Investitionen, die transparent und nachhaltig sind - ohne dass das Geld durch Korruption und Vetternwirtschaft versickert.
Deshalb begrüßt Michael Brüntrup ausdrücklich die Maputo-Erklärung der Afrikanischen Union: 2003 versprachen die afrikanischen Länder, zehn Prozent ihres gesamten Haushalts in die Landwirtschaft zu investieren. Leider habe zum Beispiel Kenia, wo Hunderttausende von Menschen von der Dürre bedroht sind, das Versprechen nicht eingelöst, so der Agrarexperte.
Reserven anlegen
"Für akute Krisen wie die jetzige muss man zusätzliche Geld- oder Nahrungsmittelreserven anlegen. Oder man muss die internationale Gebergemeinschaft um Hilfe bitten", sagt der DIE-Mitarbeiter.
Aber diese zusätzlichen Hilfen der Weltgemeinschaft sind trotz aller Zusagen bis jetzt ziemlich spärlich geflossen - und sie reichen bei weiten nicht aus, um eine Katastrophe dieses Ausmaßes zu bekämpfen, betont Ralf Südhoff vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. "Wir haben den Auftrag der Regierungen, diesen Menschen zu helfen - aber nicht das notwendige Geld."
Dabei warnen viele Hilfsorganisation bereits heute, dass die nächste Hungerkatastrophe sich abzeichnet: Im Südsudan, seit seiner Unabhängigkeitserklärung im Juli 2011 der jüngste Staat im Weltverband der Vereinten Nationen, auch er ist gezeichnet von Geldmangel, fehlender Regierungskompetenz und wachsender Korruption. Die Abwärtsspirale dreht sich weiter.
Autorin: Helle Jeppesen
Redaktion: Beate Hinrichs