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Glaube

Advent – Gott kommt als verwundbares Kind

27. November 2020

Im Unterschied zu antiken Erzählungen über Kaiser, Pharaonen und Dichter war Jesus kein Wunderknabe oder Held, sondern ein normales Kind. Damit teilt Gott das menschliche Schicksal, wird verwundbar und sterblich.

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Deutschland Hammelburg | Krippe | Mund-Nasenschutz
Bild: Margit Herold

Letztes Jahr habe ich für meine Weihnachtskarte das „Mahnmal gegen das Vergessen“ gewählt. Geflüchtete Menschen aus Syrien und dem Irak hatten 2016 zusammen mit der Bildhauerin Brele Scholz (Aachen) einen Einbaum mit Skulpturen aus Holz geschnitzt: Sie zeigen Menschen unterschiedlicher Hautfarben, kleine und große, alte und junge. Davor liegt auf dem Boden eine kindliche Figur, die an Alan Kurdi erinnert, den zweijährigen syrischen Jungen, der im Mittelmeer ertrank. Sein Leichnam wurde im Herbst 2015 an die türkische Küste geschwemmt.

Dieses Jahr greife ich als Motiv auf Holzfiguren zurück, die eine Mitschwester gestaltet und mit Stoffen bekleidet hat. Für das Foto werde ich die rund 70 Zentimeter großen Figuren ins Freie stellen, selbstverständlich mit genügend Abstand zwischen Maria und Josef, dem Engel und einem Hirten. Nur das Jesuskind darf im Arm seiner Mutter liegen. Und alle werden – wie es sich gehört – einen Mund-Nase-Schutz aus Stoff tragen. Mit dieser Corona-Krippe möchte ich zeigen: Auch die heilige Familie ist verwundbar. Das ist ja das Anstößige und Unglaubliche, das uns die Evangelisten Matthäus und Lukas in ihren Kindheitsgeschichten überliefern. Im Unterschied zu den antiken Erzählungen über Kaiser, Pharaonen und Dichter war Jesus eben kein Superheld, kein göttliches Genie, kein Wunderknabe, sondern ein ganz normales Kind. Der Sohn Gottes kam in unser sterbliches Fleisch, er wurde ein Mensch wie wir. Geboren wie alle Menschenkinder. Bedürftig und nackt, auf Nahrung und Windeln, menschliche Nähe, Geborgenheit und Wärme angewiesen. Er unterwarf sich den Gesetzen von Zeit und Raum. Er nahm alles an und auf sich, was das menschliche Leben ausmacht. Und das bedeutet eben auch: Hunger und Durst, Frieren und Flucht, Mühsal und Arbeit, Folter und Tod. Das anzunehmen und auszuhalten, fällt uns schwer. Wir möchten uns absichern, Kontrolle gewinnen über das, was uns gefährlich werden könnte, unabhängig davon, ob die Bedrohung von Krankheiten, Naturgewalten oder von anderen Menschen und fremden Staaten ausgeht.

Gleichzeitig wissen wir: Letzte Gewissheiten gibt es nicht. Mitten im Leben sind wir ständig von Risiken, Unglück, Scheitern oder Sterben umgeben. Davon hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 gesprochen: „Das ist, was eine Epidemie uns zeigt: wie verwundbar wir alle sind, wie abhängig von dem rücksichtsvollen Verhalten anderer, aber damit eben auch: wie wir durch gemeinsames Handeln uns schützen und gegenseitig stärken können.“[1] Ähnlich äußert sich Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika „Fratelli tutti“. Für einen Moment habe die Covid-19-Pandemie uns bewusst gemacht, dass wir als weltweite Gemeinschaft im selben Boot sitzen und die globale Tragödie uns allen zum Schaden gereicht. Keiner kann sich alleine retten. Der Sturm, der über das Boot gekommen sei, legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt falsche und unnötige Gewissheiten auf, auf die wir gebaut haben. (FT 32)[2] Dennoch sei die Versuchung groß, sich voneinander abzuwenden und abzugrenzen. Ablehnung von Migranten, Missachtung der Menschenrechte, Wettrüsten statt Friedensgespräche, Nationalismus und Rassismus seien kein Weg, um globale Herausforderungen anzugehen. Die Pandemie erforderten wie der Klimawandel weltweite Lösungen. Sie gelängen nur, wenn die Menschheit zu einer neuen Geschwisterlichkeit und globalen Solidarität findet.

Wir stehen im Advent. Zeit des Wartens. Zeit der Ankunft. In diesem Jahr ist vieles anders. Was bleibt ist die Einladung an uns, trotz aller Hygiene- und Abstandsregeln Wege zu finden, Nähe zu zeigen, Einsamkeit zu überwinden, Geborgenheit zu schenken, Herbergen zu öffnen, Wohlstand zu teilen, Armut zu verhindern, Neuanfänge zu ermöglichen und Menschlichkeit zu wagen.

[1] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/angela-merkel-rede-coronavirus-wortlaut-1.4850582

[2] Vgl. http://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html, Nr. 32.

 

Sr. Dr. Katharina Ganz (50), Dr. theol., Dipl.-Sozialpäd. (FH), 1995 Eintritt im Kloster Oberzell, seit 2013 Generaloberin der Oberzeller Franziskanerinnen.