AfD in Deutschland: Angriff auf den Parlamentarismus
27. September 2024Thüringen liegt weit weg von der großen Berliner Politik. Seine Bedeutung für die deutsche Politik ist daher gering. In der Regel. Das ostdeutsche Bundesland hat mit 1,7 Millionen Menschen nicht einmal halb so viele Wahlberechtigte wie die deutsche Hauptstadt Einwohner.
Thüringen steht für eine ruhmreiche deutsche Geschichte. Hier hat Martin Luther das Neue Testament ins Deutsche übersetzt. Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller machten die Thüringer Stadt Weimar zum Zentrum deutscher Literatur und Philosophie. Und in Thüringen wurde auch die weltberühmte Bauhaus-Architektur begründet.
Und politisch hat Thüringen eine erhabene Ehre. Ebenfalls in der Stadt Weimar wurde die erste deutsche Demokratie begründet: die Weimarer Republik.
Ganz Deutschland schaut auf Thüringen
Im Jahr 2024 allerdings schaut ganz Deutschland voller Sorgen auf Thüringen. Denn zum ersten Mal seit 1945, seit dem Ende des unheilvollsten Kapitels der deutschen Geschichte, der Herrschaft Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten, hat hier eine rechtsextreme Partei bei Landtagswahlen die meisten Stimmen bekommen. Die Alternative für Deutschland, die AfD. Am 1. September 2024 erzielt sie mit 32,8 Prozent der Stimmen ein Rekordergebnis.
Die Wahl kam alles andere als überraschend. Sie hatte einen langen Vorlauf. Und über Monate warnten Verfassungsrechtler, Politikwissenschaftler, Vereine, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Kirchen vor den Folgen eines Wahlsiegs der AfD. Denn in unzähligen Reden und Schriften haben Spitzenfunktionäre der AfD die demokratischen Institutionen verunglimpft. Politische Konkurrenten werden als "Kartellparteien" beleidigt, die deutsche Demokratie als neue Diktatur diffamiert. Die unabhängige Justiz wird von der AfD als Büttel des politischen Gegners dargestellt.
Und immer wieder kokettieren ihre Spitzenfunktionäre mit dem Terrorregime der Nationalsozialisten. Ein führendes Parteimitglied posiert mit der Hand auf dem Herzen vor Hitlers Führerbunker. Ein Spitzenkandidat relativiert die Verbrechen der massenmörderischen SS. Ein Bundestagsabgeordneter nennt sich "das freundliche Gesicht des Nationalsozialismus". Ein Funktionär verschickt Hitler-Bildchen.
Höcke: Wahlkampf mit NS-Parole
Und Thüringens AfD-Landesvorsitzender Björn Höcke verwendet die Losung der verbrecherischen Sturmabteilung (kurz: SA) Adolf Hitlers "Alles für Deutschland!", um Wahlkampfreden abzurunden. Zwei Mal wird er dafür von einem deutschen Gericht zu hohen Geldstrafen verurteilt.
Weil Björn Höcke einer der mächtigsten Strippenzieher seiner Partei ist, weil seine AfD nicht nur Thüringen sondern ganz Deutschland verändern will und weil sie für die millionenfache Abschiebung von Migranten kämpft und die Zerstörung der konkurrierenden Parteien zum Ziel erklärt hat, liegt der Fokus von ganz Deutschland jetzt auf Thüringen.
Es ist Donnerstag, der 26. September 2024, als die AfD erstmals ihre neue Stärke präsentieren kann. Im Thüringer Landtag in der Landeshauptstadt Erfurt kommt das neu gewählte Parlament zusammen. Mit der AfD als stärkster Fraktion.
Die AfD darf an diesem feierlichen Tag der Zeremonienmeister der Demokratie sein. Weil die Partei den ältesten Abgeordneten in ihren Reihen hat und damit den Alterspräsidenten stellt.
Es ist eigentlich ein Tag der eingeübten demokratischen Rituale: Das Parlament konstituiert sich, stellt seine Beschlussfähigkeit fest und wählt sich einen Landtagspräsidenten oder eine Präsidentin, damit dann im Anschluss die parlamentarische Arbeit aufgenommen werden kann.
AfD: die Sprache der Rechtsextremisten
Aber noch bevor es dazu kommt, hält der 73-jährige AfD-Alterspräsident Jürgen Treutler erst einmal eine Rede. Er spricht von der "Verachtung des Volkes" durch eine 'Elite'. Er zitiert wohlwollend den völkischen und antisemitischen Pädagogen Eduard Spranger als einen der "bedeutenderen deutschen Denker". Spranger sorgte dafür, dass 1938 Juden aus der Goethe-Gesellschaft ausgeschlossen wurden und verteidigte die nationalsozialistische Revolution unter Adolf Hitler. Es ist die Sprache des Rechtsextremismus.
Als Treutler seine abgelesene Rede abgeschlossen hat, beginnt ein Schauspiel, dass Verfassungsexperten exakt genau so vorausgesehen hatten: die AfD versucht die Deutungshoheit über die Geschäftsordnung des Parlaments zu übernehmen und nutzt ihren Alterspräsidenten, um das Parlament lahmzulegen.
Es geht um das etwas komplizierte Prozedere zur Wahl eines Landtagspräsidenten oder einer Präsidentin. Es ist guter Brauch in Deutschland, dass das Amt auf die stärkste Fraktion im Parlament fällt. Das Amt ist wenig beachtet. Aber wer es hat, kontrolliert die parlamentarischen Abläufe. Und er kann wichtige Stellen in der Landtagsverwaltung besetzen. Jetzt will die vom Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextrem" eingestufte AfD den Präsidenten stellen. Weil sie die stärkste Partei ist.
Aber weil die AfD zwar stark ist, aber bei weitem keine Mehrheit im Parlament hat, wollen alle anderen Parteien die Wahl verhindern. Was wiederum die AfD verhindern will.
Verkompliziert wird das Vorgehen, weil die Geschäftsordnung des Landtags einigen Spielraum für Interpretationen lässt. Und der Landtag gleichzeitig noch nicht beschlussfähig ist. Die Gemengelage ist das perfekte Einfallstor für Chaos und ein Riesentheater. Wovor Experten die Parteien seit Monaten warnen.
Von Beginn der Sitzung an weigert sich der neue Alterspräsident, Anträge der anderen Parteien anzunehmen. Und so kocht die Stimmung gleich hoch. Von "Machtergreifung" spricht die CDU, weil das "heilige Recht" der Abgeordneten zur Selbstorganisation verweigert werde, und die AfD als Minderheitenpartei die Mehrheitsmeinung im Parlament sabotiere.
Es kommt immer wieder zu Unterbrechungen und stundenlangen Beratungen der parlamentarischen Geschäftsführer der einzelnen Fraktionen am Pult des Alterspräsidenten. Wie verfahren? Der 73-jährige Treutler klammert sich an sein Redemanuskript, als hätte es ihm jemand aufgeschrieben. Die meiste Zeit scheint er gar nicht zuzuhören, wenn der Direktor des Landtags, Jörg Hopfe, allen Beteiligten eindringlich die juristischen Feinheiten erklärt. Treutlers Desinteresse ist dabei erstaunlich offensichtlich.
Als der AfD-Politiker dann dem Parlament vom Präsidiumsplatz aus weiter aus seinem umklammerten Redemanuskript vorträgt, wird er mehrmals vom Direktor des Landtags unterbrochen. Hopfe ist Volljurist und ein hervorragender Kenner des Thüringer Parlaments- und Verfassungsrechts. Er arbeitet seit 33 Jahren für die Parlamentsverwaltung. Immer wieder tritt er respektvoll, aber eindringlich an das Podest des Alterspräsidenten. Er weist ihn auf vermeintliche Verfahrensfehler hin. Bis der AfD-Politiker ihn anherrscht: "Unterbrechen Sie mich nicht!" Hopfe entgegnet: "Das ist Verfassungsbruch!" Aber AfD-Politiker Treutler fährt ungerührt fort. Es ist ein einmaliger Vorgang.
So endet nach stundenlangen Scharmützeln und Unterbrechungen der erste Plenartag ohne Ergebnis. Jetzt soll das Thüringer Verfassungsgericht entscheiden, wie es weitergeht.
Damit ist eingetreten, was die AfD seit Jahren fast schon lustvoll beschwört: die Unfähigkeit des demokratischen Betriebs, konstruktive Arbeit zu leisten.
Schon vor dem Urteil der Verfassungsrichter sagen zahlreiche Juristen: der Alterspräsident und AfD-Politiker hat seine Kompetenzen weit überschritten und unangemessen gehandelt.
Am Ende des chaotischen Tages meldet sich der geschäftsführender Innenminister von Thüringen zu Wort: der Sozialdemokrat Georg Maier. Er spricht sich erneut für ein Verbotsverfahren gegen die AfD aus. "Die heutigen Ereignisse im Thüringer Landtag haben gezeigt, dass die AfD aggressiv kämpferisch gegen den Parlamentarismus vorgeht. Ich denke, dass damit die Voraussetzungen für ein Verbotsverfahren gegeben sind", schrieb der SPD-Politiker am Abend auf der Plattform X.
Einen Tag nach der Sitzung spricht das höchste Thüringer Gericht, der Verfassungsgerichtshof, sein Urteil: danach war das Verhalten des Alterspräsidenten und AfD-Politikers Treutler unangemessen. Es verpflichtet ihn dazu, in wesentlichen Punkten im Sinne der anderen Parteien vorzugehen. Es ist die Rechtslage, auf die ihn der Landtagsdirektor schon eindringlich hingewiesen hatte und die er unwirsch beiseite schob.
Die AfD war auf dieses Urteil vorbereitet. Fraktionschef Björn Höcke diskreditierte die unabhängige Justiz schon bevor das Gericht überhaupt angerufen wurde. Auf Facebook raunte er: schon in der Vergangenheit "folgten die Urteile der Verfassungsgerichtbarkeit der Macht und nicht dem Recht."
Der Angriff auf die Justiz - die AfD startete ihn noch vor ihrem Angriff auf das Parlament.
Der Artikel wurde am 27. September 2024 nach dem Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs aktualisiert.