Was ist eine gesundheitliche Notlage?
23. Juli 2022Am 20. Mai dieses Jahres registrierte Großbritannien 20 Fälle von Affenpocken. Betroffen waren hauptsächlich homosexuelle Männer. Seitdem ist die Zahl der Infizierten stark angestiegen. Am 20. Juli verzeichnete die WHO nahezu 14.000 Fälle, während die US-Gesundheitsbehörde CDC allein an einem Tag, vom 19. Juli auf den 20. Juli, einen sprunghaften Anstieg von 14.511 auf 15.378 feststellte. Die Mehrzahl der Fälle wird bei diesem aktuellen Ausbruch in Europa registriert.
Seit dem 14. Juli haben auch Bermuda, Thailand, Serbien, Georgien, Indien und Saudi Arabien erste Fälle gemeldet. Die Zahl der Länder, in denen Affenpocken festgestellt wurden, ist damit auf 73 angestiegen. Während die Fallzahlen weiter steigen, besteht bei Epidemiologen Uneinigkeit darüber, ob die Entscheidung der WHO, eine gesundheitlichen Notlage auszurufen, richtig war oder nicht.
Von Donnerstag bis Samstag beriet der Notfall-Ausschuss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf darüber, ob wegen der weltweiten Ausbreitung der Affenpocken eine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite (GNIT) ausgerufen werden soll. Ein erstens Treffen zu diesem Thema hatte am 23. Juni stattgefunden. Damals war der Notfall-Ausschuss zu dem Schluss gekommen, dass der Ausbruch den erforderlichen Schwellenwert noch nicht erreicht habe. Das ist nun anders.
"Es ist eine heikle Entscheidung, die der Ausschuss da zu fällen hat", sagt Jimmy Whitworth, Professor für Internationale Gesundheitspolitik an der London School of Hygiene & Tropical Medicine. "Es ist ein beispielloser Ausbruch, der viele Länder betrifft und von einer verstärkten internationalen Koordinierung profitieren würde. Andererseits handelt es sich um eine Infektion, bei der wir über das notwendige Instrumentarium verfügen, um sie unter Kontrolle zu halten, die meisten Fälle haben einen milden Verlauf und die Sterblichkeitsrate ist äußerst gering."
Was ist eine GNIT?
Die Einstufung als gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite ist die höchste Alarmstufe, über die die WHO verfügt. Sie basiert auf im Jahre 2005 vereinbarten internationalen Gesundheitsvorschriften, die die Rechte und Pflichten einzelner Länder im Umgang mit grenzübergreifenden gesundheitlichen Ereignissen festlegen.
Die WHO definiert eine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite als "außergewöhnliches Ereignis, das wegen der internationalen Ausbreitung als Risiko für die öffentliche Gesundheit anderer Staaten eingestuft wird und möglicherweise ein koordiniertes internationales Handeln erforderlich macht". Die WHO führt weiter aus, dass sich diese Definition auf ernste, plötzliche, ungewöhnliche oder unerwartete Situationen bezieht, die Auswirkungen für die öffentliche Gesundheit über die Landesgrenzen hinaus haben und gegebenenfalls ein sofortiges internationales Eingreifen erfordern.
Wer entscheidet über die Ausrufung einer Notlage?
Der Notfall-Ausschuss der WHO spricht gegenüber dem Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, eine Empfehlung aus. Er trifft dann auf Grundlage dieser Empfehlung eine endgültige Entscheidung. Dem Notfall-Ausschuss zu Affenpocken gehören 16 Mitglieder an. Den Vorsitz führt der ehemalige Direktor für Immunisierung und Impfstopfe bei der WHO, der Kongolese Jean-Marie Okwo-Bele. Zu den anderen Ausschussmitgliedern zählen Epidemiologen und Gesundheitsexperten aus der ganzen Welt.
Das Für und Wider
Die Ausrufung einer gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite soll die Mobilisierung und Koordinierung von Informationen und Ressourcen sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene unterstützen, um Prävention und Abwehr zu stärken.
Praktisch kann die Ausrufung einer solchen Notlage jedoch auch eine finanzielle Bürde für betroffene Länder bedeuten, insbesondere wenn Reisen und Handel dadurch eingeschränkt werden. Genau aus diesem Grund zögern einige Staaten, öffentliche Gesundheitsdaten im Fall eines Ausbruchs weiterzugeben. Kritiker des Systems weisen darauf hin, dass eine Notlage nur erklärt wird, wenn ein Ausbruch bereits im Begriff ist, sich international auszubreiten, also bereits eine akute Stufe erreicht hat. Darum fordern einige Kritiker mehrere zwischengeschaltete Alarmstufen.
Im Fall von COVID-19 wurde zum Beispiel erst Ende Januar 2020 eine gesundheitliche Notlage erklärt. Bei den zwei vorangehenden Treffen im selben Monat - mehrere Wochen, nachdem China bereits Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen hatte - war die Entscheidung noch gegen ein solches Vorgehen gefallen. Studien zufolge nehmen zu viele Länder zunächst eine abwartende Haltung ein und ignorieren die Erklärungen, bis es zu spät ist. So wie bei COVID-19.
"Die Leute hörten nicht zu", klagte Michael Ryan, Direktor für Notfälle der WHO, als sich der Tag, an dem COVID-19 zur Pandemie erklärt wurde, zum zweiten Mal jährte. "Wir läuteten die Alarmglocken und die Menschen taten nichts." Häufig kritisiert werden der starke politische Druck, dem solche Erklärungen unterworfen sind, sowie die oft undurchsichtigen oder widersprüchlichen Begründungen der Notfall-Ausschüsse.
Wann wurden bisher gesundheitliche Notlagen ausgerufen?
Bis dato hat die WHO sechsmal eine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite ausgerufen, jeweils bei Viruserkrankungen:
- Im Januar 2020 wegen COVID-19. Die Notlage wurde erklärt, als das Virus zum ersten Mal außerhalb von China entdeckt wurde. Die Situation entwickelte sich zu einer anhaltenden globalen Epidemie.
- Im Juli 2019 wegen eines Ebola-Ausbruchs im Osten der Demokratischen Republik Kongo.
- Im Februar 2016 wegen des Zikavirus, das seinen Anfang in Brasilien nahm und hauptsächlich lateinamerikanische Länder betraf.
- Im August 2014 wegen eines Ebola-Ausbruchs in Westafrika, der sich auch auf Europa und die USA ausweitete.
- Im Mai 2014 wegen Polio, in Folge eines Anstiegs von Erkrankungen durch Polio-Wildviren und Impfstoff-abgeleitete Viren in Afghanistan, Pakistan und Nigeria. Neben COVID-19 ist dies die einzige Notlage, die noch in Kraft ist.
- 2009 wegen H1N1 oder der "Schweinegrippe", die von Mexiko ausgehend die ganze Welt ergriff.
Bei drei weiteren Ausbrüchen wurde die Erklärung einer Notlage in Betracht gezogen, dann jedoch verworfen, darunter ein tödlicher MERS-Ausbruch, der zuerst in Saudi Arabien im Jahr 2013 identifiziert wurde.
Was kommt jetzt?
Die WHO werde "weiterhin alles in ihrer Macht stehende tun, um die Länder dabei zu unterstützen, die Übertragung zu stoppen und Leben zu retten", bekräftigte Tedros auf einer Pressekonferenz in Genf. Testen und Impfen zählten zu den wirksamsten Waffen im Kampf gegen die Affenpocken, doch Informationen seien der Schlüssel.
Am wichtigsten sei jedoch, dass die Gesundheitsbehörden konstruktiv mit gefährdeten Gruppen zusammenarbeiten, so Experten. Rosamund Lewis, Pockenexpertin der WHO, wies zuletzt darauf hin, dass in 98 Prozent der Fälle "Männer betroffen sind, die Sex mit Männern haben - insbesondere solche, die kürzlich mehrere anonyme oder neue Partner hatten".
Aufgrund der erst kürzlich sprunghaft angestiegenen Fallzahlen warnen manche Experten vor einer potenziellen Pandemie. Jimmy Whitworth meint hingegen: "Nach allem, was wir wissen, gehen wir nicht davon aus, dass es sich in der Allgemeinbevölkerung stark ausbreiten wird. Darum glaube ich nicht, dass es sich zu einer allgemeinen Epidemie entwickeln wird."
Aus dem Englischen adaptiert von Phoenix Hanzo.