"Man fühlte sich an die Taliban verkauft"
22. September 2022Kabul, 15. August 2021: Taliban-Truppen übernehmen die Macht in der afghanischen Hauptstadt. Die letzten der seit 2001 stationierten internationalen Truppen verlassen fluchtartig das Land. Wie konnte es dazu kommen? Was ist schiefgelaufen beim 20 Jahre dauernden Versuch, Afghanistan zu befrieden und zu demokratisieren? Um diese Kernfragen geht es in einem Untersuchungsausschuss des Bundestages, der zum Auftakt gleich zwölf Fachleute eingeladen hat.
Die Folgen des Doha-Abkommens
Die sechs Frauen und Männer kennen sich aus in und mit Afghanistan, stammen zum Teil sogar aus dem Land. Fast alle sind sich einig, dass der im Februar 2020 als Doha-Abkommen bezeichnete Vertrag zwischen den USA und den Taliban über den Abzug der internationalen Truppen ein Fehschlag war.
Die afghanische Regierung unter Präsident Aschraf Ghani war daran nicht beteiligt. Für Hans-Hermann Dube besteht an dieser Einschätzung nicht der geringste Zweifel. Er leitete bis 2015 als Entwicklungshelfer die Afghanistan-Programme der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Noch heute hat er viele Kontakte zu Afghanen in Politik und Zivilgesellschaft. Über das Doha-Abkommen sagt er, die afghanische Regierung unter Aschraf Ghani sei "äußerst empört und frustriert" gewesen.
Fehlende Loyalität der afghanischen Soldaten
Viele hätten einen Bürgerkrieg für möglich gehalten. Die Sicherheitslage sei schon so desolat gewesen. "Man fühlte sich an die Taliban verkauft", fasst Dube seine Eindrücke zusammen. Dass die Taliban so schnell an die Macht zurückkehren würden, habe jedoch alle überrascht. Hauptgrund für den schnellen Zusammenbruch sei die fehlende Loyalität der Soldaten gegenüber der Regierung gewesen, ist sich Dube sicher.
2015 habe er in einem TV-Interview gesagt, man hätte Afghanistan von unten nach oben aufbauen müssen, "aber das wollte die Bundesregierung nicht hören". In der ländlichen Bevölkerung Afghanistans hätten die Taliban seit jeher ein hohes Ansehen gehabt. Die internationale Gemeinschaft habe ein falsches Bild: "Taliban rennen nicht permanent mit Kalaschnikows durch die Gegend, um Leute zu erschießen." Entscheidend für das Scheitern der Afghanistan-Mission sei die Korruption im ganzen Land, meint Dube.
Ein General, der für Verhandlungen mit den Taliban war
Einen anderen Akzent setzt Hans-Lothar Domröse, der zwischen 2008 und 2016 als General mehrmals in Afghanistan war und Einsätze des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses (NATO) verantwortete. Er sei sich nicht sicher, ob die afghanische Regierung von den Verhandlungen tatsächlich ausgeschlossen und im Dunkeln gelassen worden sei, heißt es in Domröses schriftlicher Antwort auf Fragen des Untersuchungsausschusses. "Zumindest erinnere ich mich, dass Präsident Ghani häufig von den Amerikanern über die Lage unterrichtet wurde."
Grundsätzlich habe er es immer begrüßt, mit den Taliban zu verhandeln. Die USA seien als Vermittler aufgetreten und in der Lage gewesen, alle an einen Tisch zu bringen: Taliban, pakistanische und afghanische Regierungsvertreter sowie Vertreter der truppenstellenden Nationen. Allerdings war auch Ex-General Domröse über den Alleingang der Amerikaner bei den Friedensverhandlungen in Doha überrascht.
"Sie haben sich immer an Absprachen gehalten"
Das habe nicht dem vertrauensvollen Miteinander in Kabul entsprochen, "wo Botschafter, Militärs und UN-Vertreter tagtäglich gemeinsame Sitzungen zur Lage und Entwicklung im Land abhielten". Er selbst habe mehrfach mit Vertretern der Taliban gesprochen und könne daher sagen: "Sie haben sich damals immer an die jeweiligen Absprachen gehalten – wohlwissend, dass wir Verstöße hätten ahnden können." Das sei nach dem Doha-Abkommen und dem Abzug der internationalen Truppe nicht mehr möglich gewesen.
Katja Mielke vom Bonn International Centre for Conflict Studies teilt hingegen die Kritik am Doha-Abkommen: Regierung und Zivilgesellschaft seien außenvor gelassen worden. Sie wüsste gerne, ob die deutsche Regierung daran beteiligt gewesen sei? Eine zentrale Frage im Untersuchungsausschuss. Für die Wissenschaftlerin steht fest: "Die Taliban haben die größte Supermacht der Welt auf dem Verhandlungsparkett besiegt." Und anschließend auch militärisch.
Deutschland hat bis Juni 2021 Afghanen abgeschoben
Dass Afghanistan noch wenige Wochen vor der Machtübernahme der Taliban von der Bundesregierung als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde, verwundert Katja Mielke noch immer. Die letzten Abschiebungen fanden im Juni 2021 statt. Das Doha-Abkommen habe keinen positiven Effekt auf die Sicherheit gehabt. Deshalb sei es angesichts der schon vorher angespannten Lage "nicht gerechtfertigt gewesen, aus Deutschland weiterhin Afghanen abzuschieben".
Sandra Petersmann kennt Afghanistan seit 30 Jahren, erst im August ist die Journalistin der Deutschen Welle von einer Reise zurückgekehrt. Ihre frischen Eindrücke schildert sie im Untersuchungsausschuss des Bundestages am Beispiel von zwei Frauen, die sie getroffen hat. Eine über 60-jährige Ärztin, die von 2005 bis 2010 Abgeordnete im afghanischen Parlament gewesen sei, habe sich "voller Ekel" von der Politik abgewendet. Die 20 Jahre des Afghanistan-Einsatzes habe die Gynäkologin als "Zeit der Fremdbestimmung" erlebt.
Eine junge Frau kann nicht mehr arbeiten und studieren
Sie selbst und ein Großteil der Landbevölkerung seien ausgeschlossen gewesen. Nun sei sie zwar erbost über das Schulverbot für Mädchen ab der siebten Klasse, das die Taliban verhängt hätten, trotzdem arbeitet sie für sie. Und wegen des Hungers im Land verlange die Ärztin ein Ende der gegen Afghanistan verhängten Sanktionen.
Ganz anders erlebt eine 25-Jährige, die Sandra Petersmann vor wenigen Wochen in Afghanistan getroffen hat, die neue Zeit unter den Taliban. Vor deren Machtübernahme habe sie politisch und journalistisch gearbeitet. Heute sei sie arbeitslos und könne nicht mehr studieren. Die junge Frau fühle sich "gelähmt, verraten und verkauft". Das Doha-Abkommen sei in ihren Augen "Verrat". Trotzdem sollten die Sanktionen beibehalten werden: "Lieber hungern als die Taliban unterstützen."
DW-Expertin: "Wir wurden als Besatzer wahrgenommen"
Sandra Petersmann, die Afghanistan-Expertin der Deutschen Welle, zieht ein zwiespältiges Fazit: Es habe Chancen für eine bessere Entwicklung gegeben, aber man habe sie nicht genutzt. Das internationale Engagement sei zu lange auf Kabul beschränkt gewesen, aber die Mehrheit der Bevölkerung lebe auf dem Land. "Als wir in die Fläche kamen, haben wir Krieg mitgebracht", sagt Sandra Petersmann über das Engagement Deutschlands. Die Folge: "Wir wurden als Besatzer wahrgenommen."