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Ethnokratie

Said Musa Samimy23. Mai 2007

Die Zunahme der Gewalttaten in Afghanistan hat die Hoffnung auf Frieden und Stabilität enttäuscht. Die Situation kann zum Teil auf die Stammesrivalitäten innerhalb der Elite zurückgeführt werden.

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Der Paschtune Hamid Karsai macht Angehörige kleinerer Volksgruppen zu seinen Stellvertretern, Quelle: AP
Der Paschtune Hamid Karsai macht Angehörige kleinerer Volksgruppen zu seinen StellvertreternBild: AP
Die Taliban werden vor allem von der paschtunischen Volksgruppe unterstützt, Quelle: AP
Die Taliban werden vor allem von der paschtunischen Volksgruppe unterstütztBild: AP

Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Das Spektrum der Haupt-Volkstämme des Landes erstreckt sich von Usbeken und Turkmenen über Paschtunen und Tadschiken bis hin zu Hasarahs und Nuristanies. Etwa 30 Stämme, zum Teil mit eigenen Siedlungsgebieten, eigener Kultur und Sprache, leben miteinander und nebeneinander.

Afghanen stehen in einer stark bindenden Loyalität zu ihrem Clan. Selbst Intellektuelle fühlen sich nicht unbedingt als frei handelnde Menschen: Ihr Stammesgefühl kommt unabhängig von ihrer politischen Position zum Tragen. Als selbst ernannte Vertreter ihrer Volksstämme haben afghanische Intellektuelle - seien es Kommunisten, Demokraten oder Islam orientierte Kräfte - in den letzten drei Jahrzehnten einen unerbittlichen politischen Kampf gegeneinander durchgeführt - mit der Konsequenz, dass Afghanistan von einer politischen Krise in die nächste gestürzt ist.

Nationale Interessen verdrängt

Wer darauf gehofft hat, dass mit der Einleitung des "demokratischen Friedensprozesses" Ende 2001 die Rivalität zwischen den Intellektuellen verschiedener Volksstämme beendet würde, wurde bald enttäuscht. Nach Ansicht von Zia Refat, Dozent an der Universität Kabul, sind die Hintergründe der Stammesmentalität der afghanischen Intellektuellen vielfältig. Hierbei spielen seiner Meinung nach zwei Hauptfaktoren große Rolle: "Aus politischer Sicht leiden afghanische Intellektuelle daran, dass es in ihrem Land seit Jahrzehnten politische Systeme gab, wo nicht einmal ein Mindestmaß an demokratischen Grundsätzen herrschte", sagt er. "Einen weiteren Grund kann man in der wirtschaftlichen Unterentwicklung des Landes sehen, was zum niedrigen Bildungsniveau und defizitären Erkenntnissen von der Gesellschaft geführt hat."

Nach Ansicht von Rahimullah Samander, dem Vorsitzenden des unabhängigen Journalistenverbandes Afghanistans, gab es auch gewisse Sachzwänge, die zur Zersplitterung der afghanischen Intellektuellen geführt haben. "Die vergangenen Jahrzehnte haben dazu geführt, dass einige Intellektuelle gezwungenermaßen vor die Karren einiger politischer Organisationen gespannt wurden", glaubt Samander. "Darüber hinaus gab es auch ausländische Intervention und Druck: Letzten Endes wurden nationale Interessen verdrängt."

Ethnokrate und Theokraten

Szene auf einem Markt in Kabul, Quelle: AP
Szene auf einem Markt in KabulBild: AP

Präsident Karsai, selbst ein Paschtune, versuchte die ethnische Feindseligkeit zunächst dadurch zu überwinden, dass er die Präsidentenwahl 2004 mit zwei Stellvertretern aus der Reihe von Hasaraha und Tadschiken bestritt. Darüber hinaus ist der Präsident bestrebt gewesen, die Volksstämme proportional an seinem Kabinett und darüber hinaus bei der Vergabe der wichtigen staatlichen Positionen möglichst zu berücksichtigen, nicht jedoch zum Hauptkriterium zu machen.

Eine der Errungenschaften der politischen Konstellation des jetzigen Afghanistan besteht darin, dass alle Kräfte des Landes, von den Ethnokraten über Theokraten bis hin zu Demokraten, in den Friedensprozess eingebunden sind. Die Zersplitterung der Intellektuellen ist damit jedoch nicht ansatzweise überwunden.

Saufuddin Sai hun, Dozent an der Kabuler Universität, wirft jedoch der Regierung eine Abkehr von der Politik der Stammesproportionalität vor: "Selbst in der Regierung gibt es gewisse Kräfte, bei denen politische Rückständigkeit und Stammesmentalität hoch angesiedelt sind."

Schwach und ohne Rückendeckung

Demokratisch orientierte Intellektuelle, die nach der Einleitung des demokratischen Friedensprozesses mit Begeisterung nach Afghanistan zurückgekehrt waren, haben zum Teil enttäuscht wieder das Land verlassen. Bedingt durch die Zersplitterung und Wirtschaftsschwäche der demokratischen Kräfte sind intellektuelle Kader der religiösen Kräfte wieder auf dem Vormarsch. Sie organisieren sich, sie artikulieren sich zunehmend politisch und sie setzen die Regierung unter Druck. Hierbei wird nach wie vor die Karte der Stammesinteressen politisch instrumentalisiert, um hohe Posten zu bekommen oder eine interessenorientierte Politik durchsetzen zu können.

Die demokratisch gesinnten Intellektuellen des Landes sind materiell schwach, ohne staatliche Rückendeckung und stellen sich nach vier Jahren immer noch als eine zersplitterte Gruppe dar, die keine adäquate parteipolitische Organisation hervorgebracht hat.

Zia Refat sieht nur unter gewissen Bedingungen eine Chance, die Stammesmentalität überwinden zu können: "Sollte es gelingen, Demokratie in Afghanistan zu institutionalisieren und zu stabilisieren, so können dadurch verschiedene Volksstämme des Landes angemessen an der Macht beteiligt werden, bei der Gestaltung der Gesellschaft aktiv mitwirken und Ethnien sich entfalten", erklärt er. "Erst dann kann die Stammesmentalität langfristig überwunden werden." Der Wiederaufbau des zerstörten Landes am Hindukusch stellt jedoch eine historische Aufgabe, die nur durch Anstrengungen aller Kräfte gemeinsam bewältigt werden kann.