Auf Ahnensuche in Deutschland
22. April 2014Tränen sammeln sich in ihren grünen Augen. Lyubov Duka sieht ergriffen aus, als sie die Kriegsgräberstätte des ehemaligen Emslandlagers Alexisdorf betritt. Sie schweigt und lässt ihren Blick über den Friedhof schweifen - Russenfriedhof, wie ihn die Leute nennen. Hunderte ehemalige sowjetische Kriegsgefangene liegen unter dieser Erde begraben - ohne Grabsteine, anonym. Sie alle sind Opfer des Nazi-Regimes, umgekommen im Emslandlager Alexisdorf durch Unterernährung, Krankheit oder Erschöpfung.
Timophej Lapshin, Dukas Großonkel, war einer von ihnen. Ein junger, alleinstehender Mann Anfang 20 sei er gewesen, als er an die Front musste. Nach Kriegsende kehrte Lapshin nicht mehr nach Hause zurück und galt seitdem als vermisst. Erst 2013 erfuhr seine Familie, dass er in Kriegsgefangenschaft geraten und 1944 gestorben war.
Lyubov Duka hält die Kopie eines Schriftstücks in der Hand. Darauf ist ein Foto ihres Großonkels zu sehen, gleich darunter steht die Todesursache: Tuberkulose. Das Dokument stammt von der deutschen Wehrmacht. Es ist das fehlende Puzzleteil, das Dukas Familie endlich Gewissheit brachte, was Timophej Lapshin im Krieg zugestoßen war.
Eine russischsprachige Datenbank hilft Angehörigen
Fast 70 Jahre hat es gedauert, bis Lapshins Familie von seinem Tod erfuhr. Die Geschichte ist kein Einzelfall. Noch heute wissen viele Russen nicht, was aus im Krieg verschollenen Familienmitgliedern geworden ist. "In Moskau wurden die Akten der deutschen Wehrmacht lange unter Verschluss gehalten", erklärt Kurt Buck, der die zentrale Gedenkstätte für die Emslandlager in Esterwegen leitet. Erst um das Jahr 2000 seien die Akten freigegeben worden.
Seit ein paar Jahren gibt es auch eine russischsprachige Datenbank, in der Angehörige online über den Verbleib ihrer Verwandten recherchieren können. Seitdem kommen immer wieder Menschen wie Lyubov Duka aus Russland nach Deutschland, um das Grab ihrer Ahnen zu suchen. Alleine die Gedenkstätte Esterwegen bekomme über das Deutsche Rote Kreuz pro Jahr etwa 50 bis 60 Anfragen aus Russland, erzählt Buck.
Lapshins Mutter verstarb, ohne zu wissen, was aus ihrem Sohn wurde, erzählt Duka. Tränen kullern der Frau über die Wangen, als sie das auf Russisch sagt. "Ich fühle einen Schmerz. Einen Schmerz für alle, die hier gestorben sind." Auch die Dolmetscherin ist sichtlich ergriffen, als sie weiter übersetzt: "Einen Schmerz für alle, deren Leben jung beendet wurde und damit ihre Hoffnungen und ihre Zukunft."
Kriegsgefangene mussten barfuß durch den Schnee
Lyubov Duka ist nicht alleine nach Deutschland gekommen. Ein Fernsehteam des russischen Staatssenders "Russia Today" begleitet sie. Dukas Geschichte soll Teil eines Dokumentarfilms werden. Der Kameramann folgt Lyubov Duka auf Schritt und Tritt. Jede Szene muss mehrmals wiederholt werden, ehe sie im Kasten ist.
Im Bild erscheint auch Hans Bauer. Er lebt hier und engagiert sich für den Verein "Lagerbaracke Alexisdorf-Neugnadenfeld". Bauer und seine Mitstreiter haben die Geschichte des kleinen Ortes und des Lagers Alexisdorf für die Nachwelt dokumentiert. Schriftstücke, Fotografien, Zeugenberichte - all das sammeln sie in ihrem Vereinshaus, das öffentlich zugänglich ist. Menschen wie Duka, die Angehörige im Lager Alexisdorf verloren haben, empfängt und begleitet Hans Bauer gerne persönlich zur Kriegsgräberstätte am Rand des Dorfes.
Bauer hat noch einen Zeitzeugen mitgebracht: Hermann Kronemeyer. Als Jugendlicher lebte er in der Nähe des Lagers und sah mit eigenen Augen, wie die Nazis die Kriegsgefangenen misshandelten. Im Gespräch mit der DW berichtet Kronemeyer von abgemagerten Sowjets, die im tiefsten Winter barfuß durch den Schnee marschieren mussten, von verzweifelten Männern, die ihre letzten Wertsachen und Erinnerungsstücke gegen ein Stück Brot eintauschten. "Die sowjetischen Soldaten sind hier deutlich schlechter behandelt worden als die Kriegsgefangen aus anderen Ländern", fügt er hinzu.
Lyubov Duka schließt ihren Frieden
Dukas Tränen sind inzwischen getrocknet. Sie wirkt gefasster, als sie weiterspricht. Die Dolmetscherin übersetzt: "Wir sind mit den Toten verbunden. Deutsche und russische Gefallene gehören an diesem Ort zusammen." Dabei zeigt sie auf den Friedhof.
Ob sie nicht auch Wut oder Groll den Deutschen gegenüber empfinde, weil diese ihrer Familie Leid zugefügt hätten? "Nein, nein!", sagt Duka entschlossen. "Die Männer sind oft gezwungen worden, gegeneinander zu kämpfen - Deutsche wie Russen." Sie sei heute dankbar. Dankbar, dass man die Kriegsgräber hier für die Nachwelt erhalten hat. Und dass sie endlich weiß, was aus ihrem Großonkel geworden ist.