Schwangerschaftsabbruch entkriminalisieren?
28. September 2019Seit fast 150 Jahren stehen Schwangerschaftsabbrüche im deutschen Strafgesetzbuch, sie finden sich heute zwischen Tötung auf Verlangen und fahrlässiger Tötung. Schon in den 1970er Jahren hat die "Mein Bauch gehört mir”-Bewegung für die Streichung des Paragraphen 218 demonstriert.
Knapp ein halbes Jahrhundert später gehen Aktivistinnen an diesem Samstag wieder auf die Straße mit einer ähnlichen Forderung: "Schwangerschaftsabbruch raus aus dem Strafgesetzbuch!” Sarah Thibol, Aktivistin beim Frauen*Kollektiv Köln, ist eine davon. Ihr persönliches Ziel sei zunächst, "dass viele Frauen erst mal wissen, dass Abtreibungen gar nicht legal sind in Deutschland. Da sind so viele so überrascht, wenn sie das zum ersten Mal hören."
Nach dem Gesetz wird in Deutschland der Abbruch einer Schwangerschaft mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet. Muss der Abbruch aus medizinischen Gründen stattfinden, hat eine Vergewaltigung zur Schwangerschaft geführt oder nimmt die Frau an einer Beratung teil und treibt vor der zwölften Schwangerschaftswoche ab, darf ein Abbruch ohne Strafe durchgeführt werden. Durch diese Ausnahmeregelungen ist der Eingriff jedoch nicht legal, sondern nur ohne Bestrafung möglich.
Thema "moralisch aufgeladen"
2018 wurden laut Statistischem Bundesamt knapp über 100.000 Abtreibungen in der Bundesrepublik durchgeführt. In 96 Prozent der Fälle erfolgte der Eingriff nach einer Beratung und vor der zwölften Schwangerschaftswoche. Knapp vier Prozent der Abbrüche wurden aus medizinischen Gründen ausgeführt, und nur 20 Abbrüche nach kriminologischer Indikation, also, weil die Schwangerschaft durch Vergewaltigung zustande kam.
Obwohl fast alle Frauen in Deutschland durch diese Ausnahmeregelungen abtreiben können, fordern Sarah Thibol und andere Aktivistinnen die komplette Entkriminalisierung der Schwangerschaftsabbrüche. "Es hat jemand die Hand drauf. Wir haben das Recht halt nicht", sagt sie. "Uns wird das nur gewährt, solange jemand sagt: 'Das ist in Ordnung, wenn du es jetzt machst.' Aber eigentlich ist es nicht erlaubt."
Kate Cahoon, Aktivistin beim Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, sieht ein weiteres Problem. Die Verankerung der beiden Paragrafen im Strafgesetzbuch führe zur Tabuisierung des Themas, sagt sie. "Das ist so moralisch aufgeladen und führt dazu, dass Frauen, die ungewollt schwanger werden und einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen, zusätzlich stigmatisiert werden."
Aktuell sind insbesondere Politiker der Linken, der Grünen und der FDP für eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland. Eine Mehrheit gibt es dafür aber nach wie vor nicht. Auch die Kandidaten für den SPD-Vorsitz Christina Kampmann und Michael Roth wollen sich jedoch in Zukunft dafür einsetzen.
In den Reihen von CDU/CSU sowie bei der AfD stößt dies auf Ablehnung. "Die geltende Regelung bietet mit der Beratung den besten Schutz für das ungeborene Kind und für die Mutter in ihrer schwierigen Lage", sagt etwa Elisabeth Winkelmeier-Becker, die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion.
Proteste und Gegenproteste
Wie aufgeheizt die Stimmung bei der Diskussion um Abtreibungen in Deutschland ist, zeigte sich zuletzt am 21. September in Berlin. Dort demonstrierten Abtreibungsgegner mit einem sogenannten "Marsch für das Leben" gegen Schwangerschaftsabbrüche. Der Veranstalter, der "Bundesverband Lebensrecht" sprach von mehr als 8.000 Teilnehmern.
Die Verbandsvorsitzende Alexandra Linder sagte, jeder Mensch habe "von der Zeugung bis zum Tod die gleiche personale Würde". Sie und ihre Mitdemonstranten trafen auf lautstarken Gegenprotest von etwa 5.000 Menschen, die auch mit Störaktionen wie zeitweisen Straßenblockaden auf sich aufmerksam machten.
Die öffentliche Diskussion um die gesetzliche Regelung der Abbrüche in Deutschland war nach der Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel im November 2017 neu aufgeflammt. Sie war zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt worden, weil sie auf ihre Homepage Schwangerschaftsabbrüche als Teil ihres Leistungsangebots aufgelistet hatte.
Infolge der Proteste dagegen stimmte der Bundestag im Frühjahr für eine Reform des Paragrafen 219a. Dieser hatte es Ärzten verboten, über das Angebot von Schwangerschaftsabbrüchen zu informieren. Jetzt ist diese Information abrufbar, jedoch ohne weiterführende Angaben bezüglich bestimmter Eingriffsmethoden. Diese Information wird durch eine von der Bundesärztekammer erstellte und im Internet veröffentlichte Liste bereitgestellt.
Aktivistin Cahoon ist mit dem Ergebnis der Reform unzufrieden. "Das ist ein sehr fauler Kompromiss gewesen", sagt sie. "Er hat zu keinen wesentlichen Verbesserungen geführt. Die Liste ist fast komplett leer. Es ist wirklich ein Armutszeugnis, was auf dieser List steht. Wir haben aus der Ärzteschaft gehört, dass sie nicht bereit sind, sich auf diese Liste setzen zu lassen, solange die gesetzliche Regelung nicht klar ist."
Papaya-Workshops für Medizin-Studenten
Aufgrund der Unklarheit des Gesetzes trauten sich viele Ärzte nicht, eine Abtreibung anzubieten, so Cahoon. Dazu kommt, dass viele Ärzte nicht dafür ausgebildet sind, einen solchen Eingriff anbieten zu können. Der Abbruch als medizinische Methode wird im Medizinstudium oft nicht thematisiert. Erst seit letztem Wintersemester bietet die Charité in Berlin eine Vorlesung zum Schwangerschaftsabbruch an.
Ansonsten müssen sich Studenten oft auf eigener Faust informieren. "Wenn wir nicht dafür ausgebildet werden, dann braucht man sehr viel Eigeninitiative, um das zu lernen. Es wird dann de facto einfach keine Ärzte und Ärztinnen geben, die das durchführen können," sagt etwa Caroline Gabrysch, Aktivistin bei "Medical Students for Choice".
Einzelne Frauen berichten, dass sie Hunderte von Kilometern fahren müssen, um einen Arzt zu finden, der einen solchen Angriff durchführt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es Anfang 2019 rund 1150 Einrichtungen in Deutschland, die Abtreibungen anbieten. Im Jahr 2003 waren es fast doppelt so viele wie heute, etwa 2050.
"Es ist in großen Städten wie Berlin und Hamburg nicht so ein großes Problem, aber wenn mein einziger Ansprechpartner irgendwo auf dem Land keine Ahnung oder sich damit nicht auseinandergesetzt hat, dann stehe ich als Frau alleine da und muss im Internet suchen und unglaublich weite Wege auf mich nehmen,” sagt Gabrysch.
Dass die Folgen dieses Mangels erst jetzt zu spüren sind, liege unter anderem an der Gynäkologen-Ausbildung in der DDR. "In Ostdeutschland war es verpflichtend für jeden Gynäkologen, Schwangerschaftsabbrüche in der Ausbildung zu lernen und dann auch anzubieten,” erklärt Gabrysch. Auch einige Gynäkologen in der Bundesrepublik haben noch Abbrüche angeboten. Diese Fachkräfte gehen jetzt aber in Rente.
Organisationen wie die Medical Students for Choice versuchen, das fehlenden Informationsangebot auszugleichen, in dem sie außerhalb des Lehrplans Seminare zum Thema anbieten. Darunter fallen die Papaya Workshops, die anhand der tropischen Frucht zeigen, wie ein Abbruch durchgeführt werden kann.
Die Streichung der beiden Paragraphen 218 und 219 aus dem Strafgesetzbuch ist das erklärte Ziel der Aktivisten, die an diesem Samstag auf die Straße gehen. Für Sarah Thibol aus Köln wäre das nur der erste Schritt. "Die Streichung ist das Minimum, was passieren muss", sagt sie. "Wir müssen danach noch weiter dafür kämpfen, dass Frauen auch tatsächlich abtreiben können, ohne dass ihnen der Job gestrichen wird oder dass sie aus einer Gemeinde ausgeschlossen werden", sagt sie.