Al Kaida ohne Führung?
2. Mai 2011Mit Osama bin Laden hat das Terrornetzwerk nicht nur seinen Anführer, sondern auch eine wichtige Symbolfigur verloren. Führungslos ist das weltweite Terrornetzwerk dennoch nicht. Da ist zunächst einmal die Nummer zwei der Al Kaida, der ägyptische Kinderarzt Aiman el Sawahiri, der in den letzten Jahren etwa fünf Mal so viele Terrorbotschaften verbreitet hat wie bin Laden. Er war es, der die Attentäter des 11. Septembers als "Ritter unter dem Banner des Propheten" adelte. Experten gehen davon aus, dass Sawahiri in der pakistanischen Grenzregion Nordwasiristan auf der Flucht ist und dort von Paschtunen-Stämmen geschützt wird. Im Jahr 2004 soll Sawahiri der pakistanischen Armee nur knapp durch einen Tunnel entkommen sein. Ob er gegenwärtig noch über eine besonders weitreichende operative Befehlsgewalt verfügt, daran zweifeln Experten schon seit längerem.
El Sawahiri gehörte zum Zeitpunkt der Terroranschläge vom 11. September zu einem engen Führungskreis um bin Laden, einer Art Schattenkabinett, in dem einzelnen Personen klar abgegrenzte Verantwortungsbereiche wie Ideologie, Logistik oder Finanzen zugeteilt waren.
Diese straffe Führungsorganisation ist der Al Kaida durch den weltweiten Fahndungsdruck schon seit Jahren abhandengekommen. Heute ist das weltweite Terrornetzwerk eher eine ideologische Schirmorganisation, die sich aus vielen regionalen Gliederungen zusammensetzt. Außer der Al-Kaida-Ideologie und der Bereitschaft zu tödlichen Anschlägen gibt es nur noch wenig strukturelle Gemeinsamkeiten.
So sagt etwa der britische Terrorexperte Michael Chandler: "Sie folgen einer dschihadistischen Ideologie, aber ihre Aktivitäten haben einen auf die Region bezogenen Charakter".
Gemeinsame Ideologie, getrennte Aktionen
Ob Abu Sajaf auf den Philippinen, Jemaah Islamia in Indonesien oder die Al Kaida im Maghreb, alle diese islamistischen Terrororganisationen operieren weitgehend autonom und finanzieren ihre Aktionen nach Auffassung der Geheimdienste auch größtenteils selbst. "Sie agieren lokal und sind vor allem in ihrer regionalen Auswirkung von Bedeutung", sagt Chandler.
Dies hat auch damit zu tun, dass mit Chalid Scheich Mohammed und Ramsi bin El Shibh, den Hauptdrahtziehern der 9/11-Anschläge, zwei weitere Führungsfiguren seit 2006 im amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis in Guantanamo sitzen. Überhaupt geht man davon aus, dass von den derzeit noch knapp zweihundert Guantananmo-Häftlingen etwa zehn Prozent zum harten Kern der Al Kaida gehören.
Der designierte US-Verteidigungsminister und bisherige CIA-Chef Leon Panetta hält die Al Kaida nach wie vor für die größte Gefahr, die Amerika und seinen Alliierten weltweit droht: "Ihre Führer in Pakistan planen nach wie vor Anschläge gegen uns. Ihre Partner und Anhänger im Irak, in Nord- und Ostafrika und der arabischen Halbinsel entwickeln immer noch Pläne, die unser Land und unsere Überlebensfähigkeit bedrohen sollen", vermutet Panetta.
Strategische Ziele bleiben Irak und Afghanistan
Gerade im Irak hat das Netzwerk über die Jahre ein hohes Maß an operativer Schlagkraft entwickelt, auch wenn das strategische Ziel der Dschihadisten, die Kontrolle über einen ganzen Staat zu erlangen, bislang nirgendwo auch nur annährend Realität geworden ist. Abu Musab el Sarkawi, der Führer der Al Kaida im Irak, starb schon 2006 bei einem gezielten US-Luftangriff. Seitdem gibt es zwar immer wieder Selbstmordanschläge im Irak, geballte Aktionen wie die auf das UN-Hauptquartier im August 2003 blieben jedoch seit Sarkawis Verhaftung die Ausnahme. Auch die operativen Kapazitäten der Al Kaida im Irak dürften inzwischen dezimiert sein. Selbstmordanschläge mit zum Teil verheerender Wirkung liegen aber nach wie vor in der Wirkungsmacht auch der irakischen Al-Kaida-Ableger.
Mullah Omar meist gesucht
Der afghanische Talibanchef Mullah Omar dürfte nach der Tötung Osama Bin Landes endgültig zu den meist gesuchten Personen weltweit gehören. Dabei haben in Afghanistan namhafte Talibanführer gerade in jüngerer Vergangenheit beteuert, sich von der Al Kaida distanziert zu haben. Dies kann eine rein taktische Behauptung sein, doch in dem Maße, in dem die Taliban mit dem bevorstehenden Truppenabzug der ISAF wieder zu einem Verhandlungspartner für den Westen werden, schwindet auch ihr Interesse, gemeinsame Sache mit den Terroristen zu machen.
Osama Bin Ladens Tötung hat Al Kaida sicher geschwächt. Aber das Terrornetzwerk war in seinen operativen Möglichkeiten schon längst nicht mehr von einem Führer abhängig. Schon gar nicht von einem, der seine Wirkungsmacht zuletzt vor allem aus seinem Mythos bezog.
Autor: Daniel Scheschkewitz
Redaktion: Volker Wagener