"Das Wort absurd würde nicht ausreichen“
17. Februar 2020Im Jahr 2013 erschütterten die Gezi-Proteste die Türkei. In Istanbul gingen hunderttausende Demonstranten auf die Straßen - auch viele Künstler und Intellektuelle waren unter ihnen. Sechs Jahre später begann ein Prozess gegen 16 Persönlichkeiten, die an Protest-Aktionen teilgenommen hatten. Vielen von ihnen droht nun eine lebenslange Haft - darunter dem berühmten Kulturmäzen Osman Kavala.
Sechs der Angeklagten - zum Beispiel der Journalist Can Dündar - haben sich ins Ausland abgesetzt. Diese Fälle werden von der türkischen Justiz separat behandelt.
Unter ihnen ist auch Mehmet Ali Alabora. Der Film- und Theaterschauspieler wurde bedroht und entschied sich daher vor sechs Jahren nach Wales auszuwandern. Vor den Protesten führte der 42-Jährige im Jahr 2012 das Theaterstück "Mi Minör" auf. Das Stück sei vom Arabischen Frühling inspiriert; mit der Aufführung hätte er umstürzlerische Ziele verfolgt, lautet der Vorwurf der Istanbuler Staatsanwaltschaft. Die DW hat mit ihm gesprochen.
Deutsche Welle: Wir befinden uns gerade auf einer Theaterbühne in Augsburg. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft fordert für Sie eine lebenslange Haftstrafe aufgrund eines Theaterstücks, das Sie während der Gezi-Proteste im Jahr 2013 aufgeführt haben. Wie fühlen Sie sich?
Memet Ali Alabora: Dass Sie mich das auch noch in der Geburtsstadt Bertolt Brechts in Augsburg fragen, macht die Frage noch ironischer. Wir Theaterschaffenden fragen uns häufig, ob wir mit dem Theater die Welt verändern können; oft führt diese Frage zu einer enormen Hoffnungslosigkeit. Es ist nicht mehr wie in den 1930er Jahren, als Künstler wie Brecht problemlos Tausende von Menschen erreichen konnten - die Zeiten haben sich geändert.
Sie sagten einmal, dass die Gezi-Park-Proteste gezeigt hätten, dass es möglich sei, zusammen zu leben sowie, dass Menschen zusammenhalten, wenn Sie nicht ideologisch denken. Halten Sie auch heute noch an dieser Meinung fest? Hat Gezi immer noch die gleiche Bedeutung für Sie?
Ja, meine Meinung hat sich nicht geändert. Gezi war einzigartig und wir hatten das Gefühl, dass wir die Welt verändern können. Es gibt nur wenige Momente, in denen man das Gefühl hat, dass eine neue Welt gar nicht so fern ist. Gezi war einer dieser seltenen Momente. Ohne diese Momente würde man vollkommen den Glauben an eine bessere Welt verlieren.
In ihrer Anklageschrift werden ihnen zahlreiche Vorwürfe gemacht. Alles in allem wird Ihnen vorgeworfen, dass sie mit ihrem Mi-Minör-Theaterstück und ihren Ägypten-Reisen den arabischen Frühling in die Türkei holen wollten, um den türkischen Staat zu zerstören. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
So etwas Seltsames kann man normalerweise nur mit Humor nehmen. Aber es ist zu ernst, um darüber zu lachen. Die Absurdität ist so unsäglich - so etwas kann man sich noch nicht einmal ausdenken. Das Wort absurd würde eigentlich gar nicht ausreichen. Man muss ein anderes Wort erfinden: Surreal? Nein, eher hyperrealistisch - so sollte man die Anklage nennen. Die Anklage enthält keinen einzigen Beweis für ein Verbrechen, weil es kein Verbrechen gegeben hat.
Nach den Protesten im Gezi-Park wurden Sie bedroht und ließen sich daher in Wales nieder. Nun sind Sie von den anderen Angeklagten abgetrennt. Der berühmte Philanthrop und Geschäftsmann Osman Kavala beispielsweise sitzt weiter im Gefängnis. Wie fühlt sich das für Sie an?
Das wühlt mich einfach nur auf. Das Schicksal Kavalas betrübt mich fast die ganze Zeit. Ich sehe, dass er eine sehr schwierige Zeit durchmacht - er erlebt große Ungerechtigkeit und das tut mir sehr leid. Ich habe einen essentiellen Teil von mir weit hinter mir gelassen. Manchmal denke ich, dass das Thema für mich Vergangenheit ist. Ich versuche nun, mir ein neues Leben aufzubauen. Aber immer wieder werde ich von meiner Vergangenheit eingeholt. Es ist nicht so einfach, diesen Zustand zu überwinden. Es ist eine sehr verworrene Stimmung. Man versucht alles zu vergessen, aber dann blitzt die Angst wieder kurz auf.
Tausende Menschen haben an den Protesten im Gezi-Park teilgenommen, darunter auch viele Künstler. Ist Ihr Künstlerzirkel von damals noch an Ihrer Seite oder haben Sie das Gefühl, alleine gelassen zu werden?
Teilweise hat sich das schon so angefühlt. Hin und wieder erhielt ich viel Unterstützung, ich habe unglaublich schöne Worte von einigen Menschen gehört. Aber es gab Zeiten, in denen ich kaum etwas von meinen alten Freunden gehört habe. Manche Freunde sind näher an mich heran gerückt, manche sind jetzt weiter weg.
Nachdem Sie sich in Wales niedergelassen haben, machen Sie in Ihrem Beruf in einem anderen Land weiter. Wie interpretieren die Künstler in Wales und im Ausland Ihre Erfahrungen mit Mi Minör?
Natürlich sind sie sehr überrascht - die Geschichte ist für sie sehr beeindruckend. Aber es ist sehr schwierig für sie, das alles nachzuvollziehen, weil sie es ja nie gesehen haben.
Was vermissen Sie am meisten aus Ihrer Heimat?
Gerade geht es eigentlich. Denn wir machen gerade ein Projekt, das "Istanbul else where" heißt. Es beschäftigt sich damit, wie es ist, ein Istanbuler zu sein. Wie leben Istanbuler ihre Identität? Viele meiner Gewohnheiten haben sich geändert. Manche Istanbuler Gewohnheiten habe ich hierher gebracht. Wir versuchen die Dinge, die wir vermissen, am Leben zu halten. Wenn Sie mal ins Ausland gehen, ist man auch überrascht, dass viele Dinge, über die man früher kaum nachgedacht hat, einem am meisten fehlen.
Am 18. Februar ist eine Anhörung des Gezi-Prozesses, wo auch das Urteil verkündet werden soll. Was für eine Entscheidung erwarten Sie?
Ich habe keine Erwartungen. Um diese Frage zu beantworten, muss ich mich wohl stundenlang hinsetzen und schreiben oder ich müsste aufstehen und mir die Beine vertreten. Es wäre sehr schwierig für mich zu sagen, was ich denke. Alleine die Frage macht mich fertig. Ich denke an Freunde, die lebenslänglich bekommen sollen. Es gibt eigentlich nicht die eine Antwort. Die Antwort wäre vielschichtig, komplex und voller Emotionen.
Das Gespräch führte Gezal Acer.