Alfred Grosser wird 90
1. Februar 2015Die besänftigende Sprache der Diplomatie ist seine Sache nicht – und doch ist Alfred Grosser ein großer Diplomat, nämlich dann, wenn es um die deutsch-französische Freundschaft geht. Dabei redet er nie etwas schön. Immer ehrlich, immer gerade heraus, das ist Grossers Art.
Interviewpartnern stellt er zu Anfang meist eine Frage: "Wie lang wird das Ganze am Schluss?" Und wenn die Antwort dann lautet, ein dreiminütiger TV-Beitrag oder ein verschriftlichtes Interview von rund 5000 Zeichen, dann lächelt er verschmitzt und sagt: "Gut, dann sprechen wir nicht länger als fünfzehn Minuten." In der Zeit sei alles gesagt. Und in der Tat: Grosser hat die Gabe, Dinge auf den Punkt zu bringen. Und Wahrheiten auszusprechen, die entweder bis dahin tatsächlich keiner bedacht oder niemand auszusprechen wagte.
Als sich die halbe Welt nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo zum Solidaritätsmarsch in Paris einfand, sprach er von einer "Heuchlerparade". Es sei lächerlich, dass an einer Demonstration für Pressefreiheit Politiker aus Ankara und Moskau teilnähmen.
In Bezug auf die selbsternannten "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) polterte er in einer deutschen TV-Talkrunde: "Wenn jetzt immer vom christlich-jüdischen Abendland gesprochen wird, dann wird mir als Jude regelrecht schlecht." Und wandte sich mit der Kritik auch gleich gegen die "Alternative für Deutschland" (AfD). "Das Abendland, das Sie verteidigen, wollte Hitler auch schon. Also bitte nicht das Abendland überspannen.
Sein Vater kämpfte im Ersten Weltkrieg für Deutschland
Grosser weiß, wovon er spricht. Am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren, muss er als Achtjähriger mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland fliehen. Sein Vater, der als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und für Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden war, hatte den Entschluss, sein Heimatland zu verlassen, kurze Zeit nach Hitlers Machtübernahme gefasst. Er und alle anderen jüdischen Veteranen waren aus dem Verband der Träger des Eisernen Kreuzes ausgeschlossen worden.
Dies berichtete Grosser im Juli vergangenen Jahres bei seiner Rede im Bundestag zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Ausgerechnet in Frankreich – dem Land, gegen das sein Vater im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte – sei Paul Grosser als Weltkriegsveteran gewürdigt worden. Für seinen Sohn Alfred wird Frankreich schon bald eine neue Heimat – und doch lässt ihn die alte bis heute nicht los.
Über 30 Bücher hat der Politologe – lange Zeit unterrichtete er an der renommierten Sciences Po in Paris – geschrieben. In so gut wie allen versucht er entweder den Franzosen zu erklären, wie die Deutschen ticken oder den Deutschen, was Frankreich bewegt. Ihm gelingt es, Innen- und Außensicht zugleich zu liefern, mal schreibt er "Wie anders sind die Deutschen" (2002), dann wieder "Wie anders ist Frankreich" (2005).
In seiner historischen Bundestagsrede über den Ersten Weltkrieg versicherte er den Deutschen, heute sähen 82 Prozent der Franzosen in Deutschland den verlässlichsten Partner. Es ist Menschen wie Grosser zu verdanken, dass die deutsch-französische Freundschaft heute mehr als bloße Interessenspolitik ist. Als Frankreichs Präsident Charles de Gaulle 1963 den Elysée-Vertrag unterschrieben hatte, sei dies – so Grosser – noch "keine Liebesbeziehung" gewesen.
De l'Allemagne – Über Deutschland
Für sein Engagement wurde Grosser etliche Male ausgezeichnet – in Deutschland wie in Frankreich. Er ist unter anderem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, der Goethe Plakette der Stadt Frankfurt, des Großen Verdienstkreuzes in Deutschland wie auch Offizier der Ehrenlegion – eine der höchsten Auszeichnungen Frankreichs.
Dabei beschränkt sich sein Wissen und seine Meinungsfreude nicht allein auf das Feld der aktuellen Politik und Geschichte beider Länder. Auch der Kultur und Kunst beider Länder fühlt sich Grosser verbunden – und hilft gerne nach, wenn es mal wieder Missverständnisse gibt.
Als 2013 – ausgerechnet im 50. Jahr des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags – ein Streit über die Ausstellung "De l'Allemagne" im Pariser Louvre entspann, war es Grosser, der mit seinem typischen verschmitzten Lächeln wieder für Klarheit sorgte. Zwar sei die Ausstellung vom kunsthistorischen Niveau ziemlich enttäuschend, dass Deutschland aber – so wurde es in deutschen Zeitungen empfunden – als ein "von starken dunklen Kräften gebeuteltes Land, das mehr oder weniger geradlinig auf den Nationalsozialismus zusteuerte" gezeigt werde, sei dennoch völlig übertrieben.
Ein Kritiker – auch in Bezug auf Israel
Grosser ist ein Querdenker. Das zeigt sich auch in Bezug auf Israel. Als der deutsche Nobelpreisträger Günter Grass scharf für sein Israel-Gedicht angegriffen und gar als Antisemit beschimpft wurde, ergriff Grosser als einer der wenigen Partei für Grass. Natürlich sei das, was Grass geschrieben habe, ästhetisch betrachtet, kein Gedicht, aber die inhaltliche Aussage treffe zu: Die israelische Regierung provoziere und riskiere einen Krieg mit dem Iran. Man müsse Israel kritisieren können, ohne gleich als Antisemit abgestempelt zu werden – ein Schicksal, dass durchaus auch schon ihm zuteil wurde.
Ob in Bezug auf Deutschland und Frankreich oder auf Israel – Grosser ist ein Kenner, voll emotionaler Nähe und stets mit dem kritischen Blick des Außenstehenden. Genau das macht ihn zum großen Intellektuellen.