Wenn Topsportler nicht Werkzeug sein wollen
23. Januar 2020So viel steht fest: Unter den Machthabern in Teheran hat sich Kimia Alizadeh keine Freunde gemacht. Der Weg zurück in den Iran dürfte für die Taekwondo-Kämpferin vorerst verschlossen sein. In der vergangenen Woche hatte sich Alizadeh auf Instagram mit klaren Worten an das, wie sie schrieb, "unterdrückte iranische Volk" gewandt und erklärt, warum sie sich aus ihrem Heimatland abgesetzt und Zuflucht in Europa gesucht habe. Der Post wurde inzwischen mehr als 600.000 Mal mit "Gefällt mir" kommentiert.
Die 21-Jährige bezeichnete sich darin als "eine von Millionen unterdrückter Frauen im Iran, mit denen sie [die Machthaber - Anm. d. Red.] seit Jahren spielen. Wir sind nur Werkzeuge." Sie habe "nicht die Stufen der Korruption und Lüge hinaufsteigen" wollen, so Alizadeh: "Ich haben keinen anderen Wunsch als Taekwondo, Sicherheit sowie ein glückliches und gesundes Leben."
2016 hatte Alizadeh iranische Sportgeschichte geschrieben. Als erste Frau des Landes gewann sie eine olympische Medaille: Bronze im Taekwondo bei den Spielen in Rio de Janeiro. Präsident Hassan Rohani schwärmte damals in der regimetreuen "Tehran Times", die 18-Jährige habe "der Welt die iranische und islamische Kultur vor Augen geführt und den Mut und die Kompetenz der iranischen Frauen unter Beweis gestellt". Dass Alizadeh jetzt dem Iran den Rücken gekehrt hat, war dem Regierungsblatt dagegen keine Zeile wert. Gemeldet wurde lediglich, die Taekwondo-Kämpferin habe ihren Rücktritt aus dem Nationalteam erklärt.
Alizadeh will nach eigenen Worten künftig für Deutschland an den Start gehen. Dafür wäre allerdings eine Einbürgerung nötig. Diese ist in Deutschland bei Spitzensportlern prinzipiell schneller möglich als bei normalen Bewerbern - vorausgesetzt, die Behörden sehen ein "besonderes öffentliches Interesse", wie es im Staatsangehörigkeitsgesetz heißt.
Nur den Mailänder Dom besucht
Kimia Alizaheh reiht sich ein in die immer länger werdende Liste iranischer Topsportlerinnen und -sportler, die ihr Glück fern der Heimat suchen, weil sie sich nicht länger instrumentalisieren und gängeln lassen wollen. Drei Beispiele aus Deutschland: Der Kanute Saeid Fazloula, Silbermedaillengewinner der Asienspiele 2014, floh aus dem Iran, nachdem er kurzzeitig inhaftiert worden war. Ihm wurde vorgeworfen, er wolle zum Christentum konvertieren. Fazloula hatte lediglich während der WM 2015 in Mailand den dortigen Dom besucht. Der 27-Jährige lebt heute in Karlsruhe und startet für den Deutschen Kanu-Verband.
Javad Esfandiari hat seine neue Heimat in Nürnberg gefunden. Der 31-Jährige war die Nummer drei im Tor der iranischen Futsal-Nationalmannschaft. 2016 wurde er mit dem Team Asienmeister. Esfandiari fiel wegen einer Äußerung auf einer Pressekonferenz in Ungnade, die als Kritik am Trainerteam gewertet wurde. Er sei daraufhin im Iran bedroht worden und habe um sein Leben und das seiner Angehörigen gefürchtet, sagte der Torhüter, der heute für Futsal Nürnberg in der Bayernliga spielt.
Für ähnlich viel Wirbel wie jetzt die Taekwondo-Kämpferin Kimia Alizadeh sorgte im September 2019 der Judoka Saeid Mollaei, als er sich nach Deutschland absetzte. Während der WM in Tokio hatten iranische Funktionäre den Titelverteidiger gedrängt zu verlieren, um im Finale nicht gegen den Israeli Sagi Muki antreten zu müssen. "Nicht nur ich, die ganze Welt weiß, was es für Konsequenzen gehabt hätte, wenn ich mich verweigert hätte", sagte Mollaei im DW-Interview. „Ich habe mich also an das Gesetz gehalten, damit für mich und meine Familie keine Probleme entstehen." Der 28-Jährige ist mittlerweile Staatsbürger der Mongolei.
Schach-Shootingstar Firouzja: Nicht mehr für Iran
Verstöße gegen das Verbot von Wettkämpfen gegen israelische Sportler trieben auch andere Topsportler außer Landes. So blieb 2012 die Taekwondo-Kämpferin Raheleh Asemani, Silbermedaillengewinnerin der Asienspiele 2010, in Belgien, nachdem sie dort bei einem Wettkampf gegen eine Israelin angetreten war. Fortan startete Asemani zunächst unter der Flagge des Taekwondo-Weltverbands (TWF), seit 2016 dann für Belgien.
Der iranische Schach-Shootingstar Alireza Firouzja hat seine Heimat ebenfalls verlassen. Der erst 16 Jahre alte Schachgroßmeister lebt seit rund einem halben Jahr mit seinem Vater in Frankreich. Ende 2019 bestätigte der iranische Schachverband, dass Firouzja nicht mehr für den Iran starten wolle.
An der Schnell- und Blitzschach-WM Ende Dezember in Moskau nahm Firouzja unter der Flagge des Weltverbands FIDE teil und wurde hinter dem norwegischen Superstar Magnus Carlsen Vizeweltmeister im Schnellschach. Im April vergangenen Jahres hatte sich der Jungstar aus dem Iran noch den Anweisungen aus Teheran gebeugt: Bei einem Turnier in Baden-Baden war Firouzja nicht zu einer Partie gegen einen Israeli angetreten.
Ohne Kopftuch
Anfang Januar wurde die iranische Schachspielerin Mitra Hejazipour aus dem Nationalteam ausgeschlossen. Sie hatte bei der WM in Moskau kein Kopftuch getragen. Die 26-Jährige spielt in der deutschen Schach-Bundesliga für den SV 1920 Hofheim. Wie jetzt Hejazipour wurde 2017 bereits Dorsa Derakshani aus dem iranischen Nationalteam verbannt, weil sie ohne Kopftuch gespielt hatte. Die 21-Jährige tritt inzwischen bei Turnieren für die USA an. Auch die weltweit renommierte iranische Schach-Schiedsrichterin Shohreh Bayat erregte Anfang dieses Jahres wegen fehlender Kopfbedeckung bei der Frauen-WM in Wladiwostok den Zorn der Machthaber in Teheran. Die 32-Jährige erklärte daraufhin, sie werde aus Sorge um ihre Sicherheit vorerst nicht in den Iran zurückkehren.
Härtere Gangart
Einige Weltsportverbände wollen sich mit den ständigen Einmischungen aus Teheran nicht mehr abfinden und haben eine härtere Gangart eingeschlagen. So suspendierte der Ringer-Weltverband UWW im Februar 2018 den Iraner Alireza Karimi Machiani für ein halbes und seinen Trainer Hamidreza Jamschidi für zwei Jahre. Jamschidi hatte seinen Schützling bei der U23-WM im November 2017 lautstark aufgefordert, seinen Kampf zu verlieren, um später nicht gegen einen Konkurrenten aus Israel kämpfen zu müssen.
Der Judo-Weltverband IJF sperrte im September 2019 als Reaktion auf den Fall Saeid Mollaei iranische Judoka bis auf Weiteres für alle internationalen Wettbewerbe. Der Iran habe gegen den IJF-Ethikcode und die olympische Charta verstoßen, hieß es. Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), sprach in diesem Zusammenhang bei einer Pressekonferenz vor zwei Wochen in Lausanne von einem "laufenden Verfahren". Er habe einen Brief erhalten, der vom iranischen Sportminister und dem Chef den iranischen Nationalen Olympischen Komitees unterschrieben gewesen sei, sagte Bach: "Darin wurde uns versichert, dass der Iran in Zukunft die Bestimmungen der Olympischen Charta uneingeschränkt einhalten wird."
Interpretation im eigenen Sinne
Einige Optimisten werteten den Brief bereits als Kurswechsel der iranischen Führung in der Sportpolitik. Die meisten Beobachter sprechen dagegen von einem bloßen Lippenbekenntnis. Dass sich die Führung in Teheran die Dinge immer noch so zurechtbiegt, wie es ihr passt, zeigt ein Bericht des Regierungsblatts "Tehran Times" von Mitte Dezember. Unter dem Titel "IOC-Präsident Bach dankt Hassan Rohani für aktive Unterstützung" wurde aus einem Brief Bachs zitiert: "Ich vertraue darauf, dass Sie und Ihre Regierung die Prinzipien der politischen Neutralität und Solidarität weiterhin unterstützen werden, sodass die Olympischen Spiele Tokio 2020 und auch die Zeit danach eine echte Feier der Einheit in der Vielfalt der gesamten Menschheit sein werden."
Hatte Bach wirklich "weiterhin" geschrieben und damit impliziert, dass Teheran das Postulat politischer Neutralität im Sport bisher unterstützt hat? Das Zitat habe sich lediglich auf das Verhalten Irans in einer Sitzung der UN-Vollversammlung Anfang Dezember bezogen, antwortete das IOC auf Nachfrage der DW. Der Iran hatte einer Resolution zugestimmt, in welcher der Olympische Frieden während der Spiele 2020 in Tokio garantiert wurde. Der Brief war laut IOC jedoch nicht nur, wie von der "Tehran Times" suggeriert, an Rohani gegangen, sondern an alle 186 Staatschefs jener UN-Mitglieder, die für die Resolution gestimmt hatten.