Alle Macht für Erdogan
25. Juni 2018Im April vergangenen Jahres haben sich die Türken in einem Referendum mit einer knappen Mehrheit für das von Staatschef Recep Tayyip Erdogan angestrebte Präsidialsystem ausgesprochen. Mit den Parlaments- und Präsidentenwahlen ist der Übergang in das neue System nun abgeschlossen. Kritiker befürchten, dass es eine Ein-Mann-Herrschaft in der Türkei ermöglicht. Klar ist: Erdogan hat nun noch mehr Macht als zuvor. Ein Überblick:
Der Präsident wird Staats- und Regierungschef
Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Chef der Exekutive wird nun der Präsident, der bisher laut Verfassung eine vorwiegend repräsentative Funktion hatte. Künftig ist der Präsident für die Ernennung und Absetzung einer von ihm selbst bestimmten Anzahl von Vizepräsidenten und Ministern sowie aller hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitspracherecht. Mitglieder des Kabinetts dürfen nicht Abgeordnete sein.
Regieren per Dekret
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Präsidiale Dekrete dürfen Verfassungsrechte nicht einschränken und schon gesetzlich bestimmte Regelungen nicht betreffen. Gesetze darf - bis auf den Haushaltsentwurf - nur noch das Parlament einbringen.
Der Präsident wird Mehrheitsführer im Parlament
Vor der Reform war der Präsident zu politischer Neutralität verpflichtet, doch seitdem darf er seine Parteizugehörigkeit aktiv ausüben. Erdogan ist Vorsitzender der größten Partei und kann so als Mehrheitsführer das Parlament kontrollieren. Schon im Mai 2017 war Erdogan an die Spitze seiner AKP zurückgekehrt.
Wahlen im Doppelpack
Wie jetzt am Sonntag werden in der Türkei auch in Zukunft Parlament und Präsident zeitgleich für die Dauer von fünf Jahren gewählt. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die aktuellen Wahlen waren eigentlich für November 2019 geplant, Erdogan hat sie aber vorziehen lassen.
Zwei und mehr Amtszeiten
Der Präsident kann eigentlich nur für zwei je fünfjährige Amtszeiten gewählt werden. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten eine Neuwahl beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren. Außerdem beginnt die Zählung der Amtszeiten unter dem neuen Präsidialsystem neu. Erdogan ist also nach seinem Wahlsieg in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er damit theoretisch bis 2033 an der Macht bleiben.
Weniger Rechte für das Parlament
Die Abgeordneten verlieren die Befugnis, Minister des Amtes zu entheben. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister - nicht an den Präsidenten. Gegen diesen können die Abgeordneten künftig nicht nur wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ein Amtsenthebungsverfahren anstreben. Aber die Hürden dafür sind sehr hoch: Um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen, braucht es eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten.
Weiterhin wenige Chancen für kleinere Parteien
Die höchst umstrittene Zehn-Prozent-Hürde für Parlamentswahlen, die insbesondere prokurdische Parteien benachteiligt, bleibt bestehen.
Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz
Mit der Reform erhält der Präsident mehr Kontrolle über die Justiz. Seit der Annahme der Verfassungsreform ernennt er sechs der 13 Mitglieder des Rats, der für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig ist. Die anderen Ratsmitglieder wählt das Parlament aus - in dem der Präsident aber Mehrheitsführer ist. Im alten System hatten die Juristen selbst die Mehrheit des zuvor 22-köpfigen Gremiums bestimmt. Die Militärgerichte im Land wurden bereits abgeschafft.
(mit Material von afp und dpa)