Vor 20 Jahren
2. Januar 2012Ein paar Scheiben klirren, Stühle und Tische werden umgeworfen. Aber es gibt keine Gewalt gegen Personen, es fallen keine Schüsse. Dieser historisch einmalige Vorgang ereignet sich am 15. Januar 1990 in der Ost-Berliner Stasi-Zentrale. Tausende Demonstranten drängen auf das weitläufige Gelände im Bezirk Lichtenberg, das über Jahrzehnte Sperrgebiet war.
Mit friedlichen Mitteln bemächtigt sich das Volk des Herrschaftswissens eines Spitzel-Apparates, der seit den 1950er-Jahren vor allem das eigene Volk ausspioniert und unterdrückt hat. Die Besetzung des Stasi-Hauptquartiers ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass die meisten Akten gesichert und im wiedervereinten Deutschland geöffnet werden können. Westliche Politiker, die Regierung des "Kanzlers der Einheit", Helmut Kohl, will das brisante Material lieber vernichten oder ins Bundesarchiv verbringen, wo es unter Verschluss bleiben soll. Auch das können die Bürgerrechtler letztlich verhindern.
Noch im Oktober 1989 sind Schusswaffen erlaubt
Wäre die Stasi-Zentrale schon Ende Oktober 1989, also kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, von Demonstranten gestürmt worden, hätte es vielleicht ein Blutbad gegeben. Zu diesem Zeitpunkt ist nämlich noch der Einsatz von Schusswaffen zur Gefahren-Abwehr vorgesehen, wie aus sichergestellten Stasi-Dokumenten hervorgeht. Knapp drei Monate später, am 15. Januar 1990, ist davon keine Rede mehr - im Gegenteil: Der DDR-Ministerrat fordert die Volkspolizei auf, Vertreter der Bürgerrechtsbewegung ausfindig zu machen, um die Stasi-Zentrale von außen zu sichern. Ein an sich schon erstaunliches Entgegenkommen, das den Demonstranten aber längst nicht mehr reicht.
Am späten Nachmittag des 15. Januar versammeln sich Tausende vor dem Haupteingang und begehren Einlass. Das DDR-Fernsehen berichtet live. Es spielen sich Szenen ab, die schon Anfang Dezember in Leipzig und anderen Städten vor Stasi-Objekten zu sehen waren. Bürgerrechtler sorgen für Disziplin und Ordnung. "Schuldige zur Verantwortung, aber keine Gewalt!", lautet die Losung.
Der Sturm auf die Stasi-Zentrale in Berlin ist in der zeitlichen Abfolge zwar der Schlusspunkt unter eine ganze Reihe von Besetzungen in der ganzen DDR. Aber natürlich ist er mehr als ein symbolischer Akt, meint Christian Halbrock, der am 15. Januar 1990 dabei war. Die Situation hat er noch genau vor Augen. "Das Gelände schlecht beleuchtet, nur wenige Wach-Mannschaften waren zu sehen", schildert der damals 26-jährige Elektroniker im Rückblick die Situation. An einigen Stellen kommt es zu Sachbeschädigungen, überall liegen leere Kisten und Papier-Haufen herum. Nirgends aber sieht er Leute, die randalieren. "An sich eine komische Situation", findet Halbrock.
Hat die Stasi Regie geführt?
Komisch findet Halbrock vor allem, dass die Demonstranten am Dienstsitz des Stasi-Ministers vorbeistürmen und stattdessen in den so genannten Dienstleistungs- und Versorgungstrakt drängen. Ein Umstand, der nie endende Spekulationen nährt, die Erstürmung der Stasi-Zentrale sei von der Stasi selbst gesteuert worden.
Grotesk anmutende Szenen haben sich auch andernorts abgespielt, etwa im Dezember 1989 in Leipzig, als Bürgerrechtler und Kamera-Teams gemeinsam in das Stasi-Gebäude eindringen und auf anscheinend völlig unvorbereitete Stasi-Mitarbeiter treffen. "Ich muss Ihnen sagen, dass ich von Ihrem Besuch überrascht wurde", stammelt ein Stasi-Mann. Es habe keine Voranmeldung für das Vorhaben gegeben, im Hause Aufnahmen zu machen.
Hinweise auf Akten-Vernichtung
Geradezu höflich gehen Demonstranten und Stasi-Leute miteinander um. Vielleicht sind die Herren auch deshalb so entgegenkommend, weil sie in der Zwischenzeit Spuren verwischen konnten. Halbrock hat immer wieder solche Hinweise bekommen. Von Rauchsäulen über Stasi-Objekten ist oft die Rede. Ein anderer berichtete, Akten würden außerhalb von Städten auf Müllplätzen vernichtet.
Die Sicherung der Akten war wichtig, um Stasi-Spitzel suchen und zur Verantwortung ziehen zu können. "Und um Opfer, denen Unrecht widerfahren ist, rehabilitieren zu können", nennt Halbrock ein wichtiges Anliegen der Bürgerrechtler.
Mit offenen Akten gegen Geschichtslügen
Dieses Ziel erreichen die Demonstranten. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass die Stasi-Vergangenheit zahlreicher Politiker und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst enttarnt wird - mitunter auch noch 20 Jahre später.
Die Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler, weiß den offenen Zugang zum Stasi-Erbe aber darüber hinaus zu schätzen. Ob es um die Wirtschaft gehe, um Kultur, um Sport - man komme an dieser wichtigen Quelle, den Stasi-Akten, nicht vorbei, sagt die gebürtige Ost-Berlinerin. Mit Hilfe der Akten habe man die Möglichkeit, der Legenden-Bildung etwas entgegen zu setzen. "Auch manchen massiven Geschichtslügen kann man begegnen und einem weit verbreiteten Trend, sich die DDR schön zu reden", sagt die frühere DDR-Bürgerrechtlerin.
Ein welthistorisches Ereignis
Ein welthistorisches Ereignis sei der Sturm auf die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen, meint Zeitzeuge Christian Halbrock, der nach dem Ende der DDR Geschichte studiert und promoviert hat und seit 2007 Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde ist. Dabei wird er stets aufs Neue auch mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Gerade hat er ein Buch geschrieben: "Mielkes Revier" - ein Synonym für die am 15. Januar 1990 friedlich erstürmte Stasi-Zentrale. Erich Mielke war 32 lange Jahre Stasi-Chef. Dieses Revier liegt in Berlin-Lichtenberg. Ein Bezirk, in dem Halbrock gewohnt hat, als die Mauer noch stand. Nach der friedlichen Revolution ist er weggezogen.
Autor: Marcel Fürstenau
Redaktion: Kay-Alexander Scholz