Als St. Moritz den Wintersport erfand
30. Dezember 2014"Früher gingen die Leute nicht in die Winterferien. Die hatten Angst vor den Bergen", erzählt Mario Häfliger, Tourguide der Region Engadin St. Moritz, über die legendäre Wette. Die Alpen waren vor 150 Jahren wenig erforscht, hatten etwas Düsteres. Die Gäste kamen im Sommer, um in den Heilquellen zu kuren. 1864 hatte der Hotelier Johannes Badrutt die Idee, vier englische Gäste für den Winter einzuladen. Er garantierte ihnen, dass es im Schnee in St. Moritz noch viel schöner sei. "Die haben ihm das natürlich nicht geglaubt im nebeligen London", schildert Häfliger. Sollte es ihnen nicht gefallen, wollte der Hotelier die komplette Reise zahlen. Die Engländer waren einverstanden, reisten skeptisch mit der Kutsche an und blieben von Weihnachten bis Ostern. "Braungebrannt und begeistert kehrten sie in ihre Heimat zurück. Das war die Geburt des Wintertourismus überhaupt in den Alpen", betont Häfliger.
Glamour und Natur
Heute ist St. Moritz "das inspirierendste Hochtal der Alpen und eines der glamourösesten Alpendörfer der Schweiz", bekundet die Geschäftsführerin der Tourismusorganisation, Ariane Ehrat und spricht von einer Symbiose: "Der Komfort der Hotellerie in Verbundenheit mit der archaischen Natur." Der Ort im Süden des Kantons Graubünden hat gut 5000 Einwohner und profitiert von seiner Lage in 1800 Metern Höhe. "Es ist ein wunderschönes Hochtal mit Seen und den grünen Bergen im Sommer, dahinter glänzt das Hochgebirge mit dem ewigen Eis. Für mich ist es eigentlich ein kleines Kanada", schwärmt Wanderleiterin Christine Salis und verweist auf die vielen Wanderwege. "Die Leute kommen auch zum Mountainbiken, Segeln, Golfen oder Kiten. Man kann hier jegliche Sportart ausüben", versichert sie.
Mittlerweile reisen gut 70 Prozent der Gäste im Winter an, auch wegen der sicheren Schneelage. "Wir haben neun Monate Winter und drei Monate schlechte Schneeverhältnisse", scherzt Mario Häfliger, um zugleich die Skipisten anzupreisen. "Die sind so schön, so ungefährlich, aber auch so vielseitig, dass hier Jedermann Skilaufen kann". Das schätzen auch die Profis. Für die Herren etwa geht es bei Weltcuprennen auf dem St. Moritzer Hausberg Corviglia in den freien Fall. "Ein Rennfahrer, der dort startet, ist schneller von 0 auf 100 als ein Porsche", betont der Skilehrer. Es gebe auch 200 Kilometer Langlaufloipen. "Bekannteste Skilangläuferin bei uns ist ja eure Angela Merkel. Da muss man aufpassen, dass die Kanzlerin einen in der Loipe nicht überholt", sagt er mit einem Lächeln.
"Formel 1 des Winters"
Wenig gemächlich geht es im Bob bei der "Formel 1 des Winters" zu, wie Häfliger anmerkt. "Wir haben die einzige Natureisbahn, die es noch gibt. Wenn du im Sommer kommst, siehst Du nichts. Da grasen die Schafe." Spezialisten aus dem nahen Oberitalien bauen die Bahn von Hand aus Schnee und Eis innerhalb von 20 Tagen auf. "Das ist dann die schnellste Verbindung von St. Moritz nach Celerina." Man brauche für die Fahrt aber einen klaren Kopf, da er wie in einem Cocktail hin und hergeschüttelt werde. Gäste können die Bahn hautnah miterleben - bei einer einminütigen Taxifahrt im Viererbob. "Eine Wahnsinnsgaudi! Mit 130 durch die Kurve im Eiskanal, das habe ich auch noch nicht gehabt", berichtet Siegfried aus Berlin beeindruckt. "Es gibt kein zurück. Es geht runter, schneller, ob Du willst oder nicht", erläutert Steuermann Nikolaus Albrecht. "Aber im Anschluss gibt es ein Glas Prosecco, damit man das Adrenalin wieder verdauen kann."
Alternativ bieten sich traditionelle Cresta-Rennen an. Cresta wurde 1884 von Briten erdacht und ist dem Skeleton ähnlich. Die Piloten stürzen sich auf einem Schlitten kopfüber mit bis zu 140 Stundenkilometer in einen eigenen Eiskanal. Frauen sind bei dieser etwas spleenigen Sportart allerdings nicht zugelassen.
"Ein paar Pelzmäntel"
Als gesellschaftlicher Höhepunkt jeder Saison gelten Winterpolo und "White Turf". Pferderennen auf dem gefrorenen St. Moritzersee gibt es schon seit 1907 - mit Auswirkungen für andere Sportarten. "Die Leute, die früher ihre Pferde zu den Rennen brachten, haben gemerkt, dass die Pferde nach der Rückkehr im Unterland schneller waren als die anderen", erzählt Tourgide Häfliger. Das "natürliche Blutdoping" in der Höhe von St. Moritz hätten vor allem auch die Leichtathleten für sich entdeckt. "Seitdem kommen sie immer wieder zum Höhentraining."
St. Moritz bezeichnet sich selbst als "Top of the World", als Spitze der Welt. Das gilt vor allem auch für die Welt der Schönen und Reichen. Sie veranstalten in der Jetsethochburg alljährlich ihr winterliches Schaulaufen. "Klar, wenn du dich hier umschaust, siehst du ein paar Pelzmäntel", räumt Häfliger ein. Doch der Ort sei nicht teuer. Wohl könne man oben am Berg für 300 Franken (ca. 250 Euro) Rösti mit Kaviar essen, es gebe aber auch günstige Hotels für 75 Franken die Nacht. "Beides hat Platz", sagt Häfliger. "Die Reichen schätzen es, dass wir sie wie die Normalbürger behandeln." Und sie seien auch froh über die "Normalos", sonst könnten sie sich ja nicht abheben.
Brücke zur Zukunft
In diesem Winter feiern die Schweiz und St. Moritz nun 150 Jahre Wintertourismus. Die Festivitäten sollen bei rückläufigen Übernachtungszahlen auch eine Brücke zur Zukunft herstellen. "Wir wollen zur bekanntesten und begehrenswertesten Feriendestination der Alpen werden", erklärt Tourismusdirektorin Ehrat ihre Vision. Vor zehn Jahren hätte es noch gereicht, einfach bekannt zu sein. "Heute aber ist es wichtiger, dass man auch beliebt ist." Ein "Begegnungsort" mit Gastronomie, neuen Medien, Konzerten und einer Kommunikationsbörse soll helfen, mehr Atmosphäre in die Innenstadt zu bringen und neue Gäste anzulocken. Spekuliert wird zudem auf neue Märkte wie China oder Indien.
1928 und 1948 war St. Moritz Gastgeber von Olympischen Winterspielen. Pläne für erneute Spiele 2022 scheiterten am Widerstand der Bürger. "Wir haben den sicheren Schnee und kurze Anfahrtswege. Wir hätten die Chancen gehabt, uns in den vorgegebenen Infrastrukturen weiterzuentwickeln", hadert Ehrat. Das Volk habe aber anders entschieden. "So entwickeln wir uns halt mit anderen Methoden weiter." Geht es nach der Tourismusdirektorin, soll dazu auch die Alpine Ski-WM beitragen, die 2017 zum fünften Mal in St. Moritz stattfindet: "Jetzt freuen wir uns doppelt auf die WM und 150 Jahre Wintertourismus."