Altenpflege wird Achillesferse der Wirtschaft
25. August 2014Blutzucker messen, Kompressionsstrümpfe anziehen, Medikamente austeilen - für Mai Nguyen Thi Quynh ist das inzwischen Routine. Seit elf Monaten wird die 24-Jährige in Stuttgart zur Fachkraft in der Altenpflege ausgebildet. Parallel dazu lernt sie Deutsch, denn die junge Frau ist erst für die Ausbildung aus Vietnam nach Deutschland gekommen. "Die erste Zeit in Deutschland war nicht leicht, weil alles ganz neu für mich war", erinnert sich Mai. Außerdem habe sie nicht so gut Deutsch verstanden und gesprochen. "Deshalb hatte ich manchmal Heimweh und fühlte mich einsam."
Mai Nguyen Thi Quynh gehört zu einer Gruppe von einhundert Vietnamesen, die im Herbst 2013 im Rahmen eines Pilotprojekts nach Deutschland gekommen sind. Durchgeführt wird es von der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der Bundesagentur für Arbeit. Vietnam ist ein Land mit einer jungen Bevölkerung. 60 Prozent der Menschen sind nach 1975 geboren. Die Löhne sind niedrig und wer eine Ausbildung im Gesundheitssektor macht, findet in Vietnam nur schwer einen Job. Auf die deutsche Ausschreibung bewarben sich mehr als eintausend Vietnamesen.
Ausgewählt wurden nur Bewerber, die bereits einen Beruf im Gesundheitswesen erlernt hatten. Der vorgeschaltete Intensivsprachkurs am Goethe-Institut in Hanoi, begleitet durch ein interkulturelles Training, dauerte nur ein halbes Jahr, in dem lediglich elementare Sprachkenntnisse vermittelt werden konnten.
Ein neuer Weg und ein Lernprozess
Das reiche einfach nicht aus, bilanziert Projektleiterin Reinhild Renée Ernst von der GIZ. "Niemand aus der Gruppe war vorher in Deutschland, die meisten hatten Vietnam noch nie verlassen." Es sei eine große Hürde, auf dem sogenannten Sprachniveau A2 eine zudem verkürzte Ausbildung zu beginnen. "Auch wenn sie alle sehr viel Wissen mitbringen, weil sie schon qualifizierte Krankenpfleger sind", so Ernst.
Es sei eben ein neuer Weg und ein Lernprozess, analysiert die Projektleiterin. Im Folgekurs, der gerade mit weiteren einhundert Vietnamesen gestartet ist, wird der Sprachkurs daher auf ein Jahr verlängert und mit dem sogenannten Niveau B2 enden, was bedeutet, dass sich die Absolventen spontan und fließend verständigen können sollen.
Von der Willkommenskultur zur Bleibekultur
Das macht es für alle sehr viel leichter, auch für die Arbeitgeber, die ihre Azubis neben der Berufsschule derzeit noch an zwei Nachmittagen pro Woche für den Sprachunterricht freistellen müssen. Jochen Mager, der das Seniorenzentrum Pfostenwäldle der Arbeiterwohlfahrt in Stuttgart leitet, zieht nach dem ersten Jahr dennoch eine positive Bilanz. Das Projekt lohne und rechne sich, sagt er. "Wir tun jetzt schon alles dafür, eine Bleibekultur zu entwickeln."
Im Moment würden die Auszubildenden zwar noch auf ihr Examen vorbereitet, aber ein Jahr gehe schnell vorbei. "Und wir sehen jetzt schon, dass wir ganz starke Kräfte haben und die auf jeden Fall über das Examen hinaus in unserer Einrichtung behalten wollen."
Nach der Vorbereitung in Hanoi wurden die einhundert Vietnamesen in Kleingruppen auf Altenpflegeeinrichtungen in ganz Deutschland verteilt. Acht Auszubildende kamen in das Seniorenzentrum Pfostenwäldle. Gemessen am Pflegekräftebedarf des Stuttgarter Heims ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach den guten Erfahrungen mit dem Pilotprojekt will Jochen Mager daher die Rekrutierung zusätzlicher Kräfte aus Vietnam selbst in die Hand nehmen.
Zuwanderung allein reicht nicht
Gespräche für den Aufbau einer eigenen Schulklasse in Hanoi liefen bereits, sagt er. "Ich glaube, dass wir da auf einem sehr guten Weg sind, wenn wir als einen Baustein - und das möchte ich sehr betonen - als einen Baustein die vietnamesischen Auszubildenden nach Deutschland holen." Doch auch wenn die Zuwanderung aus Vietnam und die Kooperation mit dem Land "unter einem sehr guten Stern" stünden, schränkt Mager ein: "Wir werden unsere ganzen Probleme sicherlich nicht mit Vietnamesen, Chinesen oder Spaniern lösen können."
Der Beruf des Altenpflegers zählt in Deutschland bereits jetzt zu den Mangel- oder Engpassberufen. Überall sind Stellen unbesetzt, doch das ist erst der Anfang. Nach Expertenschätzung wird im Zuge des demographischen Wandels die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit rund 2,3 Millionen bis 2030 auf rund 3,4 Millionen steigen. In zehn Jahren werden, wenn sich nichts Grundlegendes ändert, rund 150.000 examinierte Pflegekräfte fehlen, 2030 könnten es eine halbe Million offene Stellen sein.
Der Beruf muss attraktiver werden
Anna Koniecko-Sippel vom Bayerischen Roten Kreuz blickt skeptisch in die Zukunft. Seit Jahren würden Fachkräfte im Ausland rekrutiert, am großen Mangel ändere das nichts. "Wir haben Altenpfleger aus Polen, aus Kroatien, aus Vietnam, aus Bosnien, es reicht nicht aus." Auch eine Ausbildungsoffensive brachte keine Verbesserung. "Wir haben eigene Klassen ausgebildet für unsere Gesellschaft, können das aber nicht mehr, weil wir nicht genügend Bewerbungen haben. Und wenn die Leute ausgebildet sind, dann streben sie nach Höherem und wollen nicht in der Altenpflege bleiben. Sie wollen studieren und etwas anderes tun."
Das liegt vor allem an der mangelnden Attraktivität des Berufs. Altenpfleger werden vergleichsweise schlecht bezahlt und genießen wenig Anerkennung und Wertschätzung in der Gesellschaft. Im Gegenzug ist der Beruf aber sehr anspruchsvoll und fordernd. Dieses Missverhältnis müsse sich dringend ändern, warnt Dennis Ostwald vom Wirtschaftsforschungsinstitut WifOR.
Eltern pflegen oder arbeiten?
Die Pflegewirtschaft sei die Achillesferse der Gesamtwirtschaft und des Wohlstandes. "Wenn wir die alten Menschen nicht mehr pflegen können, weil wir Fachkräfteengpässe haben, dann hat das Auswirkungen auch für andere Branchen." In denen würden ebenfalls Fachkräfte fehlen. "Und was wird, wenn die Beschäftigten dort einen Tarifvertrag für eine 32-Stunden-Woche fordern, weil sie vier Stunden auf die Pflege ihrer Eltern verwenden wollen?", fragt Ostwald.
Der Altenpflege steht somit wohl die Diskussion bevor, die in den vergangenen Jahren über die Kinderbetreuung geführt wurde. Allerdings in einer größeren Dimension. Einhundert Auszubildende aus Vietnam und weitere einhundert in einem Folgeprojekt, das ist für Ostwald daher viel zu wenig. Seine Vorstellungen gehen weiter: 2000 zusätzliche Pflegekräfte pro Jahr aus Drittstaaten, so rechnet er vor, das sei der richtige Ansatz. Für den Anfang.