Was macht eigentlich Amanda Gorman?
20. Januar 2022Das schaffen nicht viele: Vor den Augen der ganzen Welt stellte am 20. Januar 2021 eine junge schwarze Frau mit einem strahlenden Lächeln den frischgewählten US-Präsidenten Joe Biden in den Schatten.
Als jüngste Dichterin zum Amtsantritt eines Präsidenten in der Geschichte der USA trat Amanda Gorman bei Bidens Amtseinführung auf - in einem leuchtend gelben Prada-Kostüm und mit hochgestecktem Haar, eingerahmt von einem roten Satinstirnband. Ihr Auftritt strahlte eine Gelassenheit aus, die für eine gerade erst 22-Jährige verblüffend war.
Amanda Gorman ist für den mitreißenden Vortrag ihres Gedichts "The Hill We Climb" in Erinnerung geblieben. Ihre einleitenden Zeilen spielten auf den Sturm auf das Kapitol durch einen gewalttätigen Mob von Donald-Trump-Anhängern am 6. Januar 2021, nur wenige Tage vor Bidens Amtseinführung, an. Das Gedicht endete mit einem verheißungsvollen Blick in die Zukunft.
Die Harvard-Absolventin zeichnete ein Land, in dem alles möglich ist, sogar ihre eigene Kandidatur für das höchste Staatsamt: "... ein dünnes schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde, das davon träumt, eines Tages Präsidentin zu sein, nur um sich selbst als Rezitatorin zu finden."
Gormans Auftritt ging viral - und die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Hilary Clinton twitterte, sie unterstütze die Aspiration der jungen Dichterin auf das höchste Amt der USA. Auch Michelle Obama sprach sich dafür aus.
Maya Angelou ist ihr "Leuchtturm"
Aufmerksamen Zuhörern entging nicht Gormans Aussprache - insbesondere ihre Betonung des Buchstabens "r": Sie ist die Folge einer Hörstörung, die in ihrer Kindheit diagnostiziert wurde und ihre Artikulation behinderte. Das Schreiben und mündliche Vortragen von Gedichten half ihr, damit umzugehen. 2017 wurde sie schließlich zur ersten "National Youth Poet Laureate" ernannt.
Im Gespräch mit dem US-amerikanischen Radiosender NPR zog Gorman Parallelen zwischen sich, Joe Biden und der amerikanischen Dichterin und Bürgerrechtsaktivistin Maya Angelou, ihrem "Leuchtturm": Alle drei litten unter Sprachstörungen. Biden hat nach eigener Aussage als Jugendlicher gestottert.
Und "Maya Angelou war als Kind stumm, als Erwachsene trug sie das Gedicht zur Amtseinführung von Präsident Bill Clinton vor", so Gorman. "Ich denke also, dass es eine Geschichte von Rednern gibt, die mit einer Art aufgezwungener Sprachlosigkeit zu kämpfen hatten, als sie bei der Amtseinführung auf der Bühne standen."
Zu Gormans Outfit am Tag der Amtseinführung gehörte auch eine Hommage an Angelou. Ihr Ring, ein Geschenk der Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey, symbolisiert einen Vogel im Käfig und erinnert an Angelous Autobiografie "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt" aus dem Jahr 1969.
Millionengagen abgelehnt
Gormans Stern strahlt seit jenem sonnigen Wintertag des 20. Januar 2021. Im Februar 2021 war sie auf der Titelseite des Magazins "Time", das Interview mit ihr führte die frühere First Lady Michelle Obama.
Gorman hat mittlerweile zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Ihr Rat an andere schwarze Mädchen: "Man muss sich selbst mit der Überzeugung krönen, dass das, worum es mir geht und wofür ich hier bin, weit über diesen Moment hinausgeht. Ich lerne gerade, dass ich nicht der Blitz bin, der einmal einschlägt. Ich bin der Orkan, der jedes Jahr kommt, und ihr könnt davon ausgehen, dass ihr mich bald wiedersehen werdet."
So trat "der Orkan" Gorman auch beim Super Bowl auf - als erste Dichterin überhaupt bei einer US-Sportveranstaltung. Mit ihrem Gedicht "Chorus of the Captains" ehrte sie drei Menschen, die während der COVID-19-Pandemie außergewöhnliche Führungsqualitäten bewiesen hatten.
Gorman zeigte auch immer wieder ihre Affinität zur Mode, etwa als sie im Mai 2021 das Cover der "Vogue" zierte. In der Ausgabe erzählte sie, dass sie bei Aufträgen anspruchsvoller geworden sei und sogar Werbeangebote in Höhe von 17 Millionen Dollar abgelehnt habe.
Wenige Tage nach ihrem Auftritt am Kapitol unterschrieb Gorman einen Vertrag beim renommierten Unternehmen IMG Models Worldwide, das unter anderem Gisele Bündchen, Gigi Hadid und Kate Moss vertritt. Trotzdem sagte sie der "Vogue", sie sei "vorsichtig damit, als Model wahrgenommen zu werden".
Drei Bücher auf den Bestsellerlisten
Gormans Gedicht zu Joe Bidens Amtseinführung erschien in der Folge als Buch, ebenso wie zwei weitere Werke, die allesamt weit vorne auf den Bestsellerlisten landeten. Auf Instagram beschrieb die Autorin ihr Kinderbuch "Change Sings" als "eine Kinderhymne, die junge Leser daran erinnert, dass sie die Macht haben, die Welt zu gestalten".
Den Gedichtband der heute 23-Jährigen mit dem Titel "Call Us What We Carry" hat der von Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai gegründete "Fearless Book Club" aktuell als Buch des Monats ausgewählt.
Gorman, die als Teil einer neuen Generation schwarzer Dichter gefeiert wird, fasst die vergangenen zwölf Monate vielleicht selbst am besten zusammen - in Gedichtform.
Über Gerechtigkeit: "Wir haben gelernt, dass Ruhe nicht immer Frieden bedeutet. Und die Normen und Vorstellungen von dem, was 'gerecht' ist, sind nicht immer 'Gerechtigkeit'."
Über die Macht der Frauen: "Wir sind keine Opfer, wir sind Siegerinnen. Wir sind die besten Verkünderinnen für den Fortschritt."
Über Hoffnung und Mut: "Es gibt immer ein Licht. Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen. Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein."
Über Selbstbestimmung: "Die einzige Zustimmung, die du brauchst, ist deine eigene."
Über Vermächtnisse: "Denn während wir unsere Augen auf die Zukunft gerichtet haben, hat die Geschichte ihre Augen auf uns gerichtet."
Adaption aus dem Englischen: Torsten Landsberg