Amazonas: "Der Mensch ist nicht wichtig"
19. September 2018Viele Menschen im Amazonasgebiet leiden. Zumeist unbeachtet von der Weltöffentlichkeit. Der frühere Kurienkardinal Claudio Hummes stellte an diesem Mittwoch in Berlin einen alarmierenden Bericht zur Menschenrechtslage der indigenen Bevölkerung am Amazonas vor. Der 84-Jährige ist Präsident des internationalen "kirchlichen Netzwerks für das Amazonasgebiet" (Repam), das von den deutschen Hilfswerken Adveniat und Misereor unterstützt wird.
DW: Eminenz, Sie setzen sich seit vielen Jahren für die Menschen im Amazonasgebiet ein. Wie würden Sie deren Situation beschreiben?
Kardinal Hummes: Papst Franziskus hatte bei seinem Peru-Besuch Anfang 2018 eine persönliche Begegnung mit den Indigenen gewollt. Dabei sagte er, dass gerade die indigenen Völker diejenigen sind, die am meisten angegriffen, am meisten bedroht werden. Als Bischof des Amazonasgebiets muss ich sagen, dass das wirklich wahr ist.
Was heißt das konkret?
Ich habe den gesamten Amazonasraum Brasiliens besucht, alle 38 Diözesen. Dort traf ich Menschen in absoluter Armut und Verlassenheit, Indigene im Urwald, Menschen an den Flußläufen oder auch Kleinbauern. Und ich kann bezeugen, was der Papst gesagt hat. Wenn sich nichts ändert, haben diese Menschen keine Chance zu überleben. Und dann wird auch die Natur komplett zerstört werden.
Worin ist diese Armut begründet? Ist sie vom Menschen verschuldet?
Einmal sind die Menschen wirklich materiell arm. Es fehlt ihnen an allem, Gesundheitsversorgung, Bildung, alles. Zudem leben sie in einem Zustand der permanenten Ausbeutung, der Kolonialisierung. Sie werden angepasst an unsere moderne Zivilisation. Das ist die Kultur der Weißen, der westlichen Bevölkerung, und wir ignorieren und zerstören ihre Träume. Sie verlieren ihre Kultur. Sie sind nicht Subjekte ihrer eigenen Geschichte, wir Weiße machen sie zu Objekten.
Wie sehr ist dieser Druck wirtschaftlichen Interessen geschuldet?
Es gibt Druck von staatlicher Seite und von nationalen oder multinationalen Konzernen. Da geht es um maximalen wirtschaftlichen Gewinn. Die Menschen spielen überhaupt keine Rolle. Alle Beteiligten verstoßen gegen grundlegende Menschenrechte. Dabei geht es um Rohstoffe für den weltweiten Markt, auch um Anbauflächen. Der Mensch ist nicht wichtig. Und auch die Umwelt spielt keine Rolle. Es geht um den schnellen Gewinn, das schnelle Geld. Derzeit haben wir die furchtbare Situation, dass immer öfter Grundwasser verseucht ist. Denn internationale Konzerne nutzen bei uns Methoden, die ihnen in ihren Heimatländern verboten sind. Am Amazonas kümmert es keinen.
Im Herbst 2019 ist im Vatikan eine Amazonas-Synode geplant. Wenn man darüber in Deutschland spricht, geht es meist um Priestermangel in dem dünn besiedelten Gebiet. Was erwarten Sie von der Synode?
Wenn man sich nur auf europäische Themen und Sichtweisen konzentriert, wäre das eine Gefahr. Dann verlieren wir das Wesentliche aus den Augen. Und klar ist, es ist eine Synode und nicht das Treffen irgendeiner NGO. Das heißt: Die religiöse Frage steht im Vordergrund. Wir müssen uns fragen, welche Kirche wir im Amazonas-Raum wollen. Ist es eine Kirche, die wirklich inkarniert, "eingefleischt" ist und auf die Zeichen der Zeit hört? Die wirklich mit den Menschen zusammen unterwegs ist? Mit ihnen lebt, leidet, aber auch feiert? Wir wollen eine Kirche, die wirklich gut inkulturiert ist, also kulturellen Eigenheiten berücksichtigt. Da fragen wir uns natürlich, welche Art von Ämtern zu dieser Kirche passen. Wir brauchen eine andere Form des Klerus, eine Form, die autochthon ist. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage nach der Verpflichtung zum Zölibat. Und die Frage der Natur und der Bewahrung der Schöpfung gehört ganz existenziell zu dieser Kirche. Das entspricht dem Evangelium, das sagt auch Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Laudato si".
Was meinen Sie mit autochthon?
Es muss eine Kirche mit einem indigenen Antlitz sein. Es geht nicht nur darum, die Rechte und das Leben der Indigenen zu verteidigen. Inkulturation, die sich dieser Anliegen annimmt, reicht nicht. Sondern es muss wirklich eine indigene Kirche sein. Genau das wird ein wesentlicher Punkt bei der Amazonas-Synode sein. Wir müssen überlegen, welche Form von kirchlicher Begleitung und geweihten Ämtern wir in der Amazonas-Kirche brauchen. Da muss es neue Modelle geben. Und dabei wird sich diese indigene Kirche – das ist mir wichtig - in Gemeinschaft mit der Weltkirche verstehen. Wir brauchen die Gemeinschaft in Verschiedenheit.