Amerika ist über sich selbst empört
4. September 2005Die Empörung und die Wut richten sich gegen die Behörden, weil sie keine adäquate Vorsorge trafen und die eingetretene Lage erbärmlich lange nicht in den Griff bekamen. Was sich in den vergangenen Tagen vor den Augen der Welt in New Orleans und anderen Teilen des Katastrophengebietes abgespielt hat, war einer mächtigen Industrienation von der Grössordnung und vom Reichtum der USA absolut unwürdig.
Amerika fühlt sich von seinen Regierenden im Stich gelassen und vor dem Rest der Welt herabgesetzt. Die Szenen, die sich in der überfluteten Stadt abspielten, erinnerten an das Elend, das sich in afrikanischen Bürgerkriegen abspielt, auch und gerade, weil die Hauptbetroffenen der Katstrophe in New Orleans Farbige sind. Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Lager physisch ganz einfach nicht in der Lage waren, die Stadt vor dem Hurrikan selbstständig zu verlassen.
Die Sturmopfer in New Orleans lebten nicht nur unter dem Meeresspiegel, sie leben zum grossen Teil auch unter der Armutsgrenze. Und ihre Hautfarbe war und ist mehrheitlich schwarz. Denoch wäres es falsch, der Bush-Regierung vorzuwerfen, aus Gründen der Rasse die Menschen bewusst im Stich gelassen zu haben. Denn nicht nur Präsident Bush, auch die bundesstaatlichen Behörden haben versagt, auch der vollmundige Bürgermeister der Stadt hat es an Vorsorge fehlen lassen. Er hätte - besser als alle anderen - wissen müssen, welcher Fürsorge die Armen, Alten und Kranken in New Orleans bedurft hätten, um sich vor dem Monstersturm in Sicherheit zu bringen. Des Bürgermeisters Hautfarbe ist ebenfalls schwarz.
Das Problem geht tiefer. Die Armutsschere in Amerika klafft seit Jahren immer weiter auseinander. Während ein nicht unbeträchtlicher Teil der Vereinigten Staaten in immer größerem Wohlstand lebt, gibt es eine wachsende Unterklasse, die in Wohnwagen, Holzbaracken, ja in
Dritter Welt-Armut und weitgehend unbeachtet von der Glitzerwelt der Medien am Existenzminimum lebt. In dieser Welt werden schon Fünjährige systematisch zum Diebstahl erzogen, Teenager sind drogensüchtig, Mord und Totschlag sind auch in normalen Nächten an der Tagesordnung.
Hurrikan Katrina und der anschließende Ausnahmezustand haben diese Verhältnisse brennglasartig verschärft und plötzlich ins Licht einer entsetzten Öffentlichkeit gerückt. Mit welchen Konsequenzen, bleibt abzuwarten. Aber es wäre zu kurz gegriffen, die Schuld nur in Washington zu suchen. Auch die örtlichen Behörden haben angesichts der grossen
sozialen Herausfoderungen, denen sich die Politik in den amerikanischen Südstaaten täglich ausgesetzt sieht, nicht immer die richtigen Prioritäten gesetzt. Wer will schon Geld für einen Deich ausgeben, wenn die Chance, dass der nächste Sturm ihn zestört, nur 1: 500 steht? Und
wenn man mit dem selben Geld Schulen, Kindergärten oder Spielplätze bauen kann, wofür man dann auch gewählt wird?
Wie immer ist die Wirklichkeit komplexer als das in den gegenseitigen Schuldzuweisungen am Tage nach der Katastrophe zum Ausdruck kommt. Bush hat die selbst verschuldeten Defizite beim Krisenmanagement inzwischen eingeräumt. Das war klug. Denn mit bloßem Leugnen hätte er die Bevölkerung niemals beruhigt. Nun hat er mit seinem verspäteten Besuch im Katastrophengebiet die lang vermisste Führungskraft aufgebracht, die den Hilfsmaßnahmen vielleicht die notwenige Dynamik verleiht.
Am Montag will er sich davon noch einmal selber überzeugen. Die zweite Reise ins Krisengebiet deutet auch auf ein schlechtes Gewissen hin. Denn durch die Schlampigkeit und das Zögern wurden nicht nur viele Menschenleben verloren, auch dem Ansehen Amerikas in der Welt ist ein weiteres Mal schwerer Schaden zugefügt worden.