Amnesty: Menschenrechte häufiger missachtet
24. Februar 2016"Die Menschlichkeit ist tot": So beschreibt eine jemenitische Frau ihre Gefühle, als sie verzweifelt vor den Trümmern einer Schule steht. "Ein Ort des Lernens wurde ausgebombt - ohne Vorwarnung."
Der neue Jahresbericht von Amnesty International gibt ihr Recht. Es gibt wenig Grund zur Hoffnung, dass die Welt besser und friedlicher wird. Krieg, Gewalt und Verfolgung gehören auf vielen Kontinenten zum Alltag und treiben täglich Tausende in die Flucht.
"2015 ist wahrscheinlich eines der schlimmsten Jahre, an die ich mich erinnere", sagt der Generalsekretär der Amnesty-Zentrale in London, Salil Shetty, im DW-Interview. "Das System, das die internationale Staatengemeinschaft 70 Jahre lang aufgebaut hat, um die Menschenrechte zu schützen, ist gefährdet."
Weltweites Bewusstsein
Kaum eine Region der Welt bleibt im aktuellen Jahresbericht unerwähnt: Es geht um die Verfolgung von Menschenrechtlern und das "Verschwindenlassen" von Menschen in Lateinamerika, Asien und Afrika, um Hinrichtungen in den USA und in Asien, verheerende Kriege und Bürgerkriege in Afrika und im Nahen Osten, die Millionen in die Flucht treiben, aber auch um die Verfolgungen von Bürgerrechtlern in totalitären Staaten überall auf der Welt.
Salil Shetty bezeichnet die Situation als "paradox". "Auf der einen Seite sind Staaten repressiver geworden. Der Kampf gegen den Terror dient als Argument für eine Massenüberwachung, Unterdrückung und Einschränkung der Menschenrechte", so Shetty. "Doch auf der anderen Seite ist das der Grund dafür, dass immer mehr Menschen für ihre Rechte kämpfen."
Flüchtlinge ohne Rechte
Als verheerend bezeichnet der Amnesty-Jahresbericht die globale Flüchtlingssituation. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges waren noch nie so viele Flüchtlinge weltweit unterwegs wie heute. Doch obwohl ihre Rechte sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als auch in den Genfer Flüchtlingskonventionen festgeschrieben sind, sind Flüchtlinge in der Praxis oft rechtlos. Europa und die Europäische Union, die sonst als Vorkämpfer für Menschenrechte gelten, geben im neuen Amnesty-Bericht kein gutes Bild ab.
"Die EU setzt weiter auf Abschottung und wird weiter versuchen, ihre Grenzen aufzurüsten, um die Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Europa zu kommen", sagt die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Selmin Caliskan, im Gespräch mit der DW.
"Dass es hinten und vorne nicht aufgeht, das wissen eigentlich alle, aber trotzdem wird auf die Abschottung der Grenzen gesetzt, statt endlich legale und sichere Zugangswege zu schaffen und vor allem die Flüchtlinge anständig humanitär zu versorgen in den Ländern, in die sie schon geflüchtet sind, wie zum Beispiel im Libanon, Jordanien und der Türkei."
Caliskan: "Auch unsere Humanität wird ausgehöhlt"
Die Diskussion um Kontingente hält die deutsche Amnesty-Chefin zwar für legal. Doch Kontingente und Obergrenzen dürften nie die Menschenrechte außer Kraft setzen, die das individuelle Recht, Asyl in einem anderen Land zu suchen, garantierten. Sie hält nichts vom Asylpaket II der Bundesregierung und der Einstufung von Ländern wie Marokko, Tunesien und Algerien als "sichere Herkunftsstaaten". Auch gebe das Asylpaket II zwar Integration vor, doch letztendlich würden Rechte wie jenes auf sicheren Aufenthalt, Familiennachzug für Minderjährige und Schutz von besonders schutzbedürftigen oder traumatisierten Flüchtlingen ausgehebelt, kritisiert sie.
Das habe, so Caliskan, auch Auswirkungen auf die Gesellschaft: "Auch unsere Humanität wird ausgehöhlt. Eine andere Normalität wird so geschaffen - und das ist gefährlich, weil man nur Wohlstand und Sicherheit haben kann, wenn man die Menschenrechte einhält."