Amokläufer - gekränkt und wütend
25. März 2016Deutsche Welle: Sie haben Kai (Name geändert) betreut, der einen Amoklauf geplant hatte und der DW darüber berichtet hat. Was kann man über die Motivation von Amok-Tätern sagen?
Heike Mohr: Es gibt oft eine massive Kränkung dieser Täter, das zeigen viele Studien. Es ist das Gefühl, abgewertet oder nicht wahrgenommen zu werden, falsch oder gar nicht verstanden zu werden.
Deutlich sieht man das bei den Tätern an der US-amerikanischen Columbine Highschool. Das dokumentarische Buch mit ihren Äußerungen spiegelt die Wahrnehmung: Keiner versteht uns richtig, wir werden nicht gut behandelt. Einer der Täter war schwer depressiv, der andere deutlich narzisstisch. Was Kai geschildert hat, wird auch in Studien genannt: das Gekränktsein, Wut auf andere und die Wahrnehmung der Außenwelt als feindselig. Das sind Muster, die sich durchgehend zeigen bei Amokläufern.
Was weiß man über psychische Erkrankungen der Täter?
Neuere Studien zum Thema Amoklauf zeigen: Nicht jeder, der eine solche Mehrfachtötung plant, ist psychisch massiv erkrankt. Meist handelt es sich nicht um eine Psychose, wie man früher angenommen hat. Einige Täter bewegen sich am Rand zur psychischen Erkrankung. Im Fall von Kai ging es deutlich in Richtung Paranoia. Wie er sich verfolgt fühlte, war völlig übersteigert. Aber bei ihm hätte man noch nicht sagen können, dass es eine ausgeprägte psychische Erkrankung war.
Auf ruhige Jugendliche achten
Was kann das Umfeld tun, um solche Taten zu verhindern?
Ein erster Hinweis ist, dass man auf ruhige Kinder und Jugendliche achten sollte und auf diejenigen, die gut integriert sind und sich dann zurückziehen. Das sind Signale, auf die auch im Schulalltag geachtet werden muss. Es stellt sich auch die Frage, wie sinnvoll Riesen-Lernkomplexe sind, also große Schulzentren mit mehreren tausend Schülern. Wichtig ist verbale Sensibilität, also ein wertschätzender Umgang miteinander und ein angemessener Umgang mit Leistungsansprüchen.
Sie haben Kontakt zu Kais Mutter - was kann man aus ihren Erfahrungen lernen?
Ich glaube, dass die Mutter von Kai alles versucht hat, was in ihren Möglichkeiten stand. Sie hat immer wieder versucht, den Weg zu ihrem Sohn zu finden. Wenn sich solche Eltern an Beratungsstellen wenden, muss ihnen Glauben geschenkt werden. Auch wenn es in 100 Fällen vorher falscher Alarm gewesen sein sollte, muss trotzdem jedes Mal genau hingesehen werden. Man sollte sich auf die Intuition von Eltern verlassen.
Amokläufer sind meist männliche Täter. Kai wuchs ohne Vaterfigur auf. Hat das Phänomen Amok etwas mit Männlichkeitsbildern zu tun?
Kai war mitten in der Pubertät, da spielt eine männliche Identifikationsfigur eine große Rolle. Kai hat das geschildert: Vom Vater kam gar nichts. Das ist ein Erleben von Ablehnung. So etwas kann sich auf die Entwicklung von Jugendlichen auswirken.
Wir haben viele Täter hier, die ohne Vater aufgewachsen sind. Das hat oft etwas mit der Straffälligkeit zu tun, mit Männlichkeit, Dominanz und ähnlichen Dingen, die im Gewaltbereich eine Rolle spielen.
Es ist also ein Erfolg, wenn Kai heute nicht so sein will wie die anderen?
Das ist eine ganz gesunde Entwicklung, ein Stück Individualität. Es ist etwas, was sich Kai erkämpft hat: Nicht mehr diesen Krieg gegen sich selbst zu führen, sondern um die eigene Identität zu kämpfen. Er kann heute sagen: Ich muss nicht aussehen und auftreten wie alle anderen.
Man weiß von den Amoktätern an der Columbine Highschool, dass sie ihr Umfeld belogen haben. Wie kann man Täuschungen auf die Spur kommen?
Ich glaube nicht, dass man alles erkennen kann. Was sich im Kopf eines Menschen abspielt, ist von außen nicht sichtbar und nur durch intensive Gespräche zu erfahren. Man sollte versuchen, eine Beziehung herzustellen, um einen Zugang zu der Person zu bekommen. Wenn man dann aufmerksam ist, bekommt man bestimmte Entwicklungen besser mit.
Natürlich gibt es auch Situationen, in denen man getäuscht wird. Das passiert uns im Haft-Alltag auch. Wenn eine Vertrauensbasis da ist, ist aber die Chance, dass man authentisches Erleben geschildert bekommt, deutlich höher.
Bei Alarmsignalen die Polizei verständigen
Gibt es Möglichkeiten, einen zu allem entschlossenen Täter noch aufzuhalten?
Wenn die Bedrohung deutlich wird, wäre der richtige Weg, sich an die Polizei zu wenden oder Beratung zu suchen. Die Symptome, die Kai gezeigt hat, können in vielfältige Richtungen deuten. Seine Mutter hat gesagt, sie hatte Angst, dass er sich etwas antut. Ihr Gedanke war nicht, dass er anderen etwas antut.
Man kann es nie sicher vorhersagen, aber es ist wichtig, sich an Beratungsstellen zu wenden. Wenn Waffen gefunden werden, sollte sich die Bezugsperson sofort an die Polizei wenden. Natürlich ist das ein schwieriger Schritt: Wer möchte dafür sorgen, dass der eigene Sohn in Gewahrsam genommen wird…
Und wer kann sich vorstellen, dass er töten will? Kai galt überall als netter, lieber Junge. Dann kaufte er Armbrust, Machete und Messer über den Online-Account der Mutter…
Man sollte vor allem dann aufmerksam werden, wenn eine Affinität zu Waffen plötzlich auftritt. Kai war in einem Bogenschießen-Verein, daher war die Bestellung einer Armbrust zunächst unverfänglich. Aber wenn er dann noch eine Machete bestellt und Messer, dann sollte man aufmerksam sein, auch wenn es ein netter, lieber Junge ist. Das ist es ja: Gerade diejenigen, die immer ganz lieb und ganz nett sind, können im Stillen etwas ausbrüten.
Wie stellen Sie fest, ob sich ein Täter von seiner Tat wirklich distanziert?
Wichtig ist, dass die Distanzierung von den Tätern selbst kommt. Deswegen sage ich immer: "Das Eine ist die Tat, die Du zu einem bestimmten Zeitpunkt verübt hast, die ich völlig ablehne und verurteile. Aber ich sehe Dich als Mensch, dessen Persönlichkeit nicht nur durch die Tat definiert wird. Wir schauen, wie Du das heute siehst."
Diese Strategie führt meist dazu, dass Inhaftierte sagen können: "Ja, das war total schlimm." Ich rede Klartext, aber ohne den moralischen Vorwurf: Wie konntest du nur? Das führt eher dazu, dass jemand in eine Verteidigungsposition kommt und die Tat bagatellisiert. Ein wichtiger Baustein ist es, die Tat aus Sicht der Geschädigten mit einzubringen. Im Fall von Kai die Frage: Wie mag es den Polizisten ergangen sein, die er angegriffen hat?
Wie sollte die Berichterstattung mit solchen Taten umgehen? Im Fall der Columbine Highschool in den USA gab es viele Nachahmer…
Ich finde, Medien sollten deutlich behutsamer damit umgehen, als es teilweise geschieht - Sensationslust ist fatal. Berichterstattung sollte weniger Details bringen. Es reicht die Information, dass Morde begangen wurden, da müssen nicht blutige Fotos dazu. Genau solche Dinge heizen den ein oder anderen Gefährdeten noch an. Auch die Geschädigten werden dadurch noch mal abgewertet. Und schließlich sind da auch noch die sekundär Geschädigten: Wie muss es den Eltern gehen, wenn sie ein Bild von ihrem toten Sohn in den Medien sehen?
Heike Mohr ist Gefängnis-Psychologin in einer Justizvollzugsanstalt für junge Inhaftierte. Dort betreute sie Kai (Name geändert), der im Alter von 16 Jahren einen Amoklauf geplant hatte und der DW seine Geschichte berichtet hat.
Das Interview führte Andrea Grunau.