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Syriens Boot ist voll

Das Gespräch führte Julia Elvers-Guyot12. September 2007

Syrien schließt seine Grenzen für die meisten irakischen Flüchtlinge. Darüber und über die Lage irakischer Flüchtlinge sprach DW-WORLD.DE mit Ruth Jüttner, der Irak-Expertin von Amnesty International.

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Irakische Flüchtlinge in JordanienBild: AP

DW-WORLD.DE: Syrien, das Land, in dem sich mit rund 1,5 Millionen Menschen die meisten Irak-Flüchtlinge befinden, hat am Montag (10.09.2007) neue Visa-Regeln eingeführt, um den Zustrom der Flüchtlinge einzudämmen. Wie sehen diese Regeln aus?

Ruth Jüttner: Bislang ist noch sehr wenig bekannt, wie sich die Einführung des Visumszwangs in der Praxis auswirken wird. Aber es ist zu befürchten, dass damit die Zahl der irakischen Flüchtlinge, die in Syrien Schutz finden, verringert werden soll. Amnesty fordert, dass die Flüchtlinge, die aus Angst um ihr Leben nach Syrien fliehen, auch weiterhin Zugang ins Land haben sollen.

Die syrische Formulierung ist – soweit sie schon bekannt ist – relativ schwammig: demnach sollen nur noch Unternehmer und Akademiker ins Land gelassen werden.

Das ist, wenn das so umgesetzt wird, der Punkt, der uns am meisten Sorge bereitet, weil es vollkommen klar ist, dass die Mehrheit der Iraker, die ihr Land verlassen, das tun, weil sie aufgrund der Menschenrechtslage und der Gewalt, die im Land herrscht, gezwungen sind, Schutz zu suchen. Und das internationale Flüchtlingsrecht fordert, dass diejenigen, die vor Verfolgung fliehen, auch die Möglichkeit haben müssen, einen Asylantrag zu stellen. Und der muss geprüft werden. Auch, wenn Syrien nicht die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat: wenn die Iraker an der Grenze abgewiesen werden, bedeutet das, dass darunter viele sein werden, deren Leben bedroht ist.

Bisher konnten die Iraker an jedem Grenzübergang nach Syrien und an jedem syrischen Flughafen ein Dreimonatsvisum bekommen. Was hat ihnen das auf Dauer genutzt - wurden sie nach drei Monaten ausgewiesen?

Irakische Flüchtlinge warten in einer Schlange mit Pässen in den Händen, Quelle: AP
Flüchtlinge aus dem Irak warten im April 2007 vor dem UN-Sitz in Damaskus auf ihre RegistrierungBild: AP

Bisher reisen die Iraker nach Ablauf dieses Dreimonatsvisums mit der ganzen Familien an den Grenzübergang, reisen pro forma aus und am gleichen Tag wieder ein. Dann erhalten sie wieder ein Dreimonatsvisum. Mit der neuen Regelung ist völlig unklar, was das für die 1,4 Millionen schon in Syrien lebenden Iraker bedeutet. Möglicherweise wird ihr Aufenthalt nach drei Monaten illegal.

Wie viele Iraker haben ihr Land bisher verlassen?

Die Schätzungen des UNHCR gehen davon aus, dass insgesamt etwa 4,2 Millionen Iraker auf der Flucht sind. Davon sind etwa zwei Millionen innerhalb des eigenen Landes Flüchtlinge, etwa 2,2 Millionen haben das Land in den letzten Jahren verlassen. In allererster Linie fliehen sie in die Region und da vor allem in die beiden Nachbarländer Jordanien, wo etwa 500.000 bis 750.000 Iraker leben, und nach Syrien. Syrien hat in den letzten Jahren pro Monat etwa 30.000 neue irakische Flüchtlinge aufgenommen, die sich dort dauerhaft niedergelassen haben. Zum Vergleich: In Europa sind im Jahr 2006 20.000 irakische Flüchtlinge angekommen. Das heißt, in Europa sind in einem ganzen Jahr noch nicht einmal so viele Flüchtlinge angekommen wie Syrien Monat für Monat aufgenommen hat.

Gibt es dafür – abgesehen von der geografischen Entfernung zu Europa – asylpolitische Gründe?

Die europäischen Staaten erteilen keine Einreise-Visa, die meisten Flüchtlinge müssen also illegal versuchen nach Europa zu kommen. Das bedeutet natürlich, dass die Zahl derjenigen, die es überhaupt bis Europa schaffen, sehr gering ist.

Aber Schweden beispielsweise hat 2006 doch 9000 irakische Flüchtlinge aufgenommen.

Schweden ist das europäische Land, das im letzten Jahr eine vorbildliche Flüchtlingspolitik gegenüber den Irakern hatte. In Schweden haben fast alle Iraker, die dort angekommen sind und einen Asylantrag gestellt haben, einen Aufenthalt aus humanitären Gründen erhalten. Wir gehen davon aus, dass die meisten illegal, also ohne Visum, nach Schweden eingereist sind, aber dass die schwedische Regierung gesagt hat: die Situation im Irak ist so schlimm, dass diese Leute alle Schutz brauchen. Im ersten Halbjahr 2007 war Deutschland Ratspräsident der EU und somit verantwortlich für die Federführung. Amnesty hat alle europäischen Staaten aufgefordert, dem Beispiel Schwedens zu folgen, irakische Flüchtlinge aufzunehmen und denjenigen, die im Asylverfahren abgelehnt worden sind, trotzdem einen sicheren Aufenthaltsort zu geben und keine Abschiebung durchzuführen. Leider konnten sich die europäischen Staaten nicht darauf verständigen.

In Deutschland selbst haben im August 706 Iraker Schutz gesucht – mehr als doppelt so viele wie im Juli. Die Erhöhung der Asylanträge liegt an einer Änderung der Anerkennungspraxis – könnten Sie die näher erläutern?

Eine Familie sitzt in einer Flüchtlingsunterkunft auf einer Couch, Quelle: dpa
Eine irakische, christliche Flüchtlingsfamilie in Deutschland (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa

In Deutschland hat die Anerkennungsrate zwischen 2003 und 2006 unter zehn Prozent gelegen. 2004 lag sie bei nur zwei Prozent. Das ist ein Skandal, wenn man sich die Menschenrechtssituation im Irak in dieser Zeit anschaut. In der ersten Hälfte dieses Jahres ist die Anerkennungsrate auf etwa 46 Prozent angestiegen. Ein Grund dafür: das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat festgestellt, dass bestimmte ethnische Minderheiten - wie zum Beispiel Christen, Mandäer oder Jesiden aus dem Zentralirak - einer Gruppenverfolgung unterliegen. Diese ethnischen Minderheiten werden anerkannt, wenn sie keine interne Fluchtalternative haben. Dadurch sind die Anerkennungsraten in Deutschland gestiegen.

Welche Länder verhalten sich besonders restriktiv und lassen keine Iraker ins Land bzw. schieben die illegalen Flüchtlinge wieder ab?

Die Möglichkeit, in bestimmte europäische Länder zu kommen, ist für irakische Flüchtlinge gleichermaßen schlecht: fast alle europäischen Staaten versuchen, irakische Staatsangehörige abzuschieben. Aus England sind mehrere Abschiebungsflüge bekannt geworden, Polen hat abgeschoben, die Niederlande, Dänemark und auch Schweden. Deutschland auch - bei uns ist es so, dass seit Ende letzten Jahres Straftäter und so genannte "Gefährder" - also Personen, die verdächtigt werden, mit terroristischen Organisationen zusammenzuarbeiten -, in den Nordirak, also die kurdische Region, abgeschoben werden können.

Jordanien hat seine Visa-Politik für Flüchtlinge bereits vor zwei Jahren verschärft, Syrien zieht jetzt nach. Wird die Flucht aus dem Irak damit unmöglich?

Jordanien und Syrien waren die Länder, die die Flüchtlinge in allererster Linie aufgenommen haben - jetzt bleibt den Irakern, die vor der Gewalt fliehen, keine Alternative. Es ist zu befürchten, dass an den Grenzen zu den Nachbarländern Flüchtlingslager entstehen werden. Besonders bedenklich ist, dass es sich da um Wüstengebiete handelt, also ein sehr unwirtliches Gebiet, wo kein Schutz gewährleistet sein kann.

Im April fand in Genf eine große UN-Flüchtlingskonferenz für den Irak statt – hat die irgendwelche nachhaltigen Ergebnisse gebracht?

Dies UNHCR-Konferenz hat sicherlich erstmal die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf die Flüchtlingskrise der Iraker gelenkt. Es gab auch etliche Zusagen von verschiedenen Staaten, Finanzmittel bereit zu stellen, insbesondere für die großen internationalen Organisationen, die Flüchtlinge unterstützen. Aber Amnesty hat bei einem Besuch in Syrien sehr häufig die Klage gehört, dass die versprochenen Gelder nicht angekommen sind. So hat zum Beispiel die irakische Regierung Syrien und Jordanien 25 Millionen Dollar versprochen, um die beiden Länder bei der Versorgung der Flüchtlinge zu unterstützen. Dieses Geld ist nach Angaben der syrischen Regierungsvertreter nicht angekommen.

Ruth Jüttner Amnesty International
Bild: Amnesty International

Ruth Jüttner ist Nahost-Referentin von Amnesty International Deutschland