Analphabetismus in Deutschland
7. Oktober 2011Die Zeichen verschwimmen und gehen ineinander über. Sie bewegen sich wie Würmer auf dem Blatt. Das Kind will sie aufhalten, zusammensetzen und sich einen Reim darauf machen. Doch die Wörter rutschen ihm immer wieder aus der Hand, wie kleine Fische.
Angestrengt versucht das Kind, in dem ganzen verschwimmenden Gekritzel eine Bedeutung zu finden, doch die Zeichen ergeben keinie Bedeutung, sie bleiben ein verwirrender Haufen zusammengewürfelter, sinnentleerter Zeichen.
So muss sich Tim-Thilo Fellmer in der Schule gefühlt haben, wenn er lesen und schreiben musste. Er zählte früher zu den funktionalen Analphabeten. Sie können zwar einzelne Sätze lesen und schreiben, sind aber nicht in der Lage, einen Text wie zum Beispiel eine Arbeitsanweisung zu lesen und zu verstehen.
Vom Analphabeten zum Kinderbuchautor
Bereits in der zweiten Klasse lautete bei Tim-Thilo Fellmer die Diagnose "Legasthenie". Der heute erfolgreiche Kinderbuchautor und Verlagsinhaber hat kaum gute Erinnerungen an seine Schulzeit. Er empfand es als extreme Mehrbelastung, einerseits vieles nicht zu können und andererseits dieses Unvermögen immer verbergen zu müssen. "Ich musste mich immer mit Tricks durchlavieren", sagt er rückblickend. "Und ich habe immer mit der Angst gelebt, entdeckt zu werden und aufzufallen." Eine sehr schwierige und sehr negative Zeit, sagt Tim-Thilo Fellmer.
In Deutschland gibt es laut einer Studie der Universität Hamburg 7,5 Millionen funktionale Analphabeten. Etwa 4,3 Millionen von ihnen haben Deutsch als Muttersprache. Mehr als 14 Prozent der erwerbstätigen Menschen in Deutschland gelten demnach als Analphabeten in diesem Sinne.
Mit Tricks durch den Alltag
Um den Alltag zu meistern, entwickeln Analphabeten im Laufe der Jahre verschiedene Tricks und Ausreden, um nicht lesen und schreiben zu müssen. Beim Ausfüllen eines Formulars behaupten sie zum Beispiel, gerade ihre Brille vergessen zu haben oder an Hand oder Arm verletzt zu sein. Sie lernen oft auch die für sie im Arbeitsleben relevanten Texte auswendig, um sie nicht erneut lesen zu müssen.
Auf diese Weise verbergen sie ihr Geheimnis jahrelang - sogar vor Freunden, Familienmitgliedern und bei der Arbeit - aus Furcht vor der sozialen Ächtung. Der Besuch eines Alphabetisierungskurses bedeutet für sie daher eine sehr große Überwindung.
Denn nach wie vor ist Analphabetismus in Deutschland ein Tabu-Thema: Die Volkshochschule Bonn beispielsweise vermittelt keine Besucher der Alphabetisierungskurse mehr als Interviewpartner an die Medien. Nach Auskunft des zuständigen Personals besuchten nämlich die angefragten Personen nach einem Interview oft nicht mehr die Kurse. Und das, obwohl sie damit eine große Chance vertan haben.
Allheilmittel Alphabetisierungskurs?
Wie schwer der Schritt zum Kursbesuch fällt, erläutert Peter Hubertus, Gründungsmitglied und Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung: "Gerade einmal 20.000 Erwachsene besuchen Lese- und Schreibkurse."
Allerdings seien die meisten Alphabetisierungskurse auch nicht optimal auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet, sagt Peter Hubertus. Denn bei den Volkshochschul-Kurse würden oft nur drei, vier Wochenstunden angeboten.
Für Berufstätige sei das vielleicht passend. Arbeitslose hätten aber viel mehr Zeit und bräuchten häufig bessere, intensivere Lernmöglichkeiten. "Wir können uns ja an fünf Fingern abzählen, dass mangelnde Lese- und Schreibkompetenzen häufig auch der Grund dafür sind, dass die Arbeitslosen nicht mehr beruflich tätig sind", sagt Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung.
Er verweist auf entsprechende Deutschkurse für Migranten. Die umfangreichen Kurse mit maximal 1.245 Stunden Unterricht seien auch preiswerter, manchmal sogar kostenlos. Die gleichen Bedingungen sollten für funktionale Analphabeten mit deutscher Muttersprache gelten, fordert Hubertus.
Volkshochschule, Privatlehrer, Computerkurse
Mag sein, dass die Lernangebote für funktionale Analphabeten nicht optimal sind. Tim-Thilo Fellmer hat sie trotzdem wahrgenommen. Er hat sich nach einer Ausbildung als Kraftfahrzeugmechaniker in einigen anderen Tätigkeiten versucht, konnte aber in keinem dieser Berufe sein Potenzial ausschöpfen, da er nicht richtig lesen und schreiben konnte. Mit Mitte Zwanzig wurde der Wunsch in ihm immer stärker, sein Problem zu bewältigen. Als allererstes habe er einen Volkshochschul-Kurs besucht, dem dann viele weitere folgten. Später halfen ein Privatlehrer, Freunde oder auch die Freundin. "Dann habe ich auch technische Hilfen mit im Anspruch genommen, wie Computerprogramme zur Alphabetisierung", erinnert er sich.
Wer trägt Verantwortung?
Viele erwachsene Analphabeten suchen die Schuld bei sich selbst. Tim-Thilo Fellmer aber verweist auf das Schulsystem. Die großen Klassen ließen den Lehrern keinen Raum für individuelle Förderung, die gerade für Kinder mit Lese- und Schreibschwäche so wichtig ist, meint er. Zehn Jahre hat es gedauert, bis sich Tim Fellmer ausreichende Kompetenzen in Lesen und Schreiben angeeignet hat, eine lange Zeit, die sich letztlich aber für ihn gelohnt hat, wie er sagt. Deshalb könne er es allen Betroffenen nur empfehlen: "Es lohnt sich, weil man hinterher so unglaublich vieles Positives dafür zurückbekommt."
Autorin: Mehrnoosh Entezari
Redaktion: Daphne Grathwohl, Hartmut Lüning