Heinz-Jürgen Axt: "Anarchisches Verhalten gegen den Staat"
31. März 2015Deutsche Welle: Herr Prof. Axt, warum schaffen es die Griechen nicht, die wichtigste Staatseinnahme, die Steuer, lückenlos einzutreiben?
Heinz-Jürgen Axt: Bei den bisherigen Regierungen, die entweder von den Sozialisten oder von den Liberalen und Konservativen geprägt wurden, war es die Angst, die Investitionsbereitschaft von Unternehmen zu gefährden, wenn man die Steuern zu sehr nach oben treibt. Diese Diskussion kennen wir bei uns in Deutschland auch, aber dazu kommt eine absolut ineffektive Finanzverwaltung, die zum großen Teil keine genauen Kenntnisse hat über die tatsächlichen Einkommen von der wohlhabenderen Schicht in Griechenland. Es gibt ja diese bekannten Beispiele, dass Ärzte im besten Stadtteil von Athen erklären, sie hätten ein Jahreseinkommen von 4000 Euro. Wo oft schon die Miete von ihren Büros diesen Betrag übersteigt. Ich glaube, da ist es insbesondere die mangelhafte administrative Kapazität, die verhindert, dass die Steuereinnahmen tatsächlich in dem Maße eingetrieben werden, die der griechische Staat auch benötigt.
Wenn ich in einem deutschen Kiosk eine Schachtel Zigaretten kaufe, dann zahle ich gleichzeitig auch die Mehrwertsteuer, die in der Quittung auch separat ausgewiesen ist. Warum hat der griechische Finanzminister nicht nach dem gleichen Prinzip sofort die Hand auf der Mehrwertsteuer?
Das Problem gibt es - ich schätze mal - seit ungefähr zehn Jahren. Und es gibt genauso lange den Versuch, diesen kleinen Schwarzhandel beim Verkauf von Waren, von Dienstleistungen zu unterbinden. Aber man bekommt tatsächlich das Gefühl, dass beide Seiten, Käufer wie auch Verkäufer, sich darauf eingelassen haben, ein stückweit am Staat vorbei Geschäfte zu betreiben. Es ist auch in anderen Ländern nicht populär, Steuern zu zahlen, aber in Griechenland macht man sich noch viel mehr als etwa bei uns ein Spiel daraus und ist es gewohnt, gegen den Staat zu arbeiten. Das ist ein stückweit sogar verständlich. Die Verwaltung und der Staat haben in Griechenland niemals wirklich effektiv gearbeitet. Und das hat zu einem Misstrauen gegenüber dem Staat geführt. Das ist so ein bisschen anarchistisches Verhalten der griechischen Bürger, das aber auch seine strukturellen Ursachen hat.
Überhaupt scheint eine Kultur der Rechnungsbelege im Land der ältesten Demokratie fremd zu sein?
Ja, das ist richtig. Also es gibt ja jetzt den Vorschlag der Regierung, dass man Touristen und Studenten, sozusagen als nebenamtliche Steuerfahnder einsetzen möchte, um zu prüfen, ob Hoteliers, ob Restaurantbesitzer tatsächlich auch Quittungen ausstellen. Das zeigt eigentlich nur die Hilflosigkeit. Normalerweise wäre das eine Aufgabe der Finanzpolizei und der Steuerbehörden, dafür zu sorgen, dass so etwas eingetrieben wird. Das Entscheidende ist, dass die Finanzverwaltung in der Vergangenheit schon unfähig war ihren Job zu machen.
Und es kommt jetzt noch was hinzu, was diese Verwaltung zusätzlich gelähmt hat. Im Zuge der Schuldenkrise in Griechenland mussten Stellen im öffentlichen Dienst, der absolut überbesetzt ist, abgebaut werden. Das hat natürlich auch bei der Finanzverwaltung dazu geführt, zu fragen: "Sind wir möglicherweise die Nächsten, die auf die Straße gesetzt werden?". Und es gab so etwas wie einen nicht erklärten Streik.
Einnahmelücken verzeichnen auch die Sozialsysteme Griechenlands. Was ist die Ursache dafür, dass so viele Unternehmen und auch Privatpersonen in der Vergangenheit um die Beitragszahlung in die Renten- und Gesundheitskasse herum kamen?
Da kann man sich nur wundern. Das ist auch so ein griechisches Spezifikum. Deutschland hat beispielsweise angeboten, 300 deutsche Steuerbeamte zu entsenden. Griechenland hat das Angebot immer abgelehnt. Man muss wissen, für Griechenland wäre das kostenlos gewesen. Die Reaktion war die: "Nein, dass ist eine staatliche Hoheitsaufgabe. Da wollen wir uns von Ausländern nicht reinreden lassen, wir wollen uns auch nicht beraten lassen". Hier sind auch Chancen vertan worden, um eine effektivere Verwaltung aufzustellen.
Gleichzeitig werden in einigen Berufsbranchen Gehälter und Renten gleich 14 Mal im Jahr ausgezahlt. Mit welcher Begründung?
Ja, dass ist ähnlich unstrukturiert, manchmal hat man auch den Eindruck, es ist chaotisch. Auffällig war, dass immer dann, wenn Wahlen anstanden, Rentenversprechen gegeben wurden. Von den Parteien wurde vieles versprochen und manches musste man auch tatsächlich den Wählern gegenüber einhalten und hat dann eben beispielsweise eine dreizehnte oder vierzehnte Rente zugestanden. Einfach, um die Wähler bei der Stange zu halten und auch den Sieg bei der nächsten Wahl zu sichern. Das ist ganz offensichtlich gewesen in der Vergangenheit. Das ist sehr schön nachzuvollziehen, wenn man erhöhte Staatsausgaben und die Ausweitung des öffentlichen Dienstes im Zusammenhang mit Wahlterminen betrachtet. Immer wenn Wahltermine anstanden haben, schnellten diese Ausgaben des Staatshaushaltes ganz erheblich nach oben.
Athen hat in der Vergangenheit Milliardenbeträge für die Schaffung einer landesweiten Katasterbehörde aus Brüssel erhalten. Es gibt bis heute keine verlässliche Übersicht über den Grundbesitz und damit auch Rechtsunsicherheit bei potentiellen Investoren. Was behindert die Schaffung von Eigentumsnachweisen bei Grundstücken?
Das ist das erwähnte Misstrauen der Bürger. Die Bürger arbeiten in der Angelegenheit nicht mit der Verwaltung, nicht mit dem Staat zusammen. Es herrscht das Gefühl vor, der Staat möchte nur zu seinem eigenem Vorteil agieren und man kann sich auf ein faires Verhalten von staatlichen Organen nicht verlassen. Und es kommt noch etwas hinzu: Ich glaube, es geht nicht nur um die Frage, ob der öffentliche Dienst personell überbesetzt ist. Sondern es geht vor allem um die Frage der Qualifikation. Ohne einen qualifizierten und auch ambitionierten öffentlichen Dienst, können die anstehenden Aufgaben absolut nicht gestemmt werden.
Warum wird es Investoren bürokratisch so schwer gemacht, in Griechenland ein Unternehmen zu gründen? Nirgendwo in der EU ist das Prozedere komplizierter und langwieriger.
Das ist ein Problem, das ich inzwischen nicht mehr nachvollziehen kann. Letztendlich erkläre ich es mir dadurch, dass bei griechischen Politikern - und das geht quer durch die Parteienlandschaft - ein großes Misstrauen gegenüber dem privaten Unternehmertum herrscht. Griechenland hat sich seit der Unabhängigkeit vom osmanischen Reich niemals wirklich zu einem reifen Kapitalismus, einer reifen Marktwirtschaft entwickeln können. Die Entwicklung in Griechenland war immer sehr stark durch den Staat und durch Staatseingriffe bestimmt. Staatliche Entwicklungsbank, Förderung von Unternehmen, aber immer unter der Kontrolle und der Oberherrschaft von staatlichen Organen. Dahinter stand eine Angst, Unternehmer könnten zu reich werden, sie könnten möglicherweise der Kontrolle des Staates entgleiten. Ich befürchte, dass sich diese Grundhaltung auch unter der neuen Regierung nicht ändern wird. Denn gerade jetzt ist der Ruf nach Einschränkung von privater Initiative besonders laut zu vernehmen.
Das Gespräch führte Volker Wagener.
Prof. Heinz-Jürgen Axt war bis zu seiner Emeritierung Politologe an der Universität Duisburg-Essen. In seiner Habilitationsschrift 1983 befasste er sich mit dem Thema "Griechenland und die Europäische Union".