Jüdische Menschen in Gefahr
5. Oktober 2020Es war am Sonntag, während des jüdischen Laubhüttenfestes. Ein 26-jähriger Student wollte gerade das Gelände der Synagoge Hohe Weide im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel betreten. Da griff der 29-Jährige den Studenten mit einem Klappspaten an, verletzte ihn schwer am Kopf. Laut der Jüdischen Gemeinde Hamburg war das Opfer des Angriffs klar als jüdisch erkennbar, da er eine Kippa trug. Der Angreifer wurde noch am Tatort festgenommen. Er soll bundeswehrähnliche Kleidung getragen haben.
Der Vorfall weckt Erinnerungen an den Angriff auf eine Synagoge in Halle an der Saale am 9. Oktober 2019. Dort hatte vor fast genau einem Jahr ein Mann - ebenfalls in Militärkleidung - am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, schwer bewaffnet die örtliche Synagoge zu stürmen. Als das misslang, tötete er zwei Menschen in der Nähe. Der Attentäter handelte aus antisemitischen, rechtsextremen Motiven. Auch der Angreifer in Hamburg könnte aus rechtsextremen Motiven gehandelt haben. Laut Informationen der Deutschen Presse-Agentur soll der Angreifer einen Zettel mit einem Hakenkreuz bei sich getragen haben. Inzwischen haben Staatsschutz und Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen übernommen. Der Staatsschutz ermittelt bei politisch motivierten Taten. Die zuständigen Behörden gaben bekannt, dass sie den Angriff auf den Synagogenbesucher als versuchten Mord werteten – mutmaßlich mit antisemitischem Hintergrund.
Der Angreifer wurde vorerst in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen. Ein Haftrichter habe einen Unterbringungsbefehl gegen den 29-jährigen Deutschen mit kasachischen Wurzeln erlassen, sagte ein Sprecher der Hamburger Polizei der Katholischen Nachrichten-Agentur. Man gehe von einer mindestens eingeschränkten Schuldfähigkeit des mutmaßlichen Täters aus.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, zeigte sich sehr betroffen angesichts der Attacke auf den Studenten. Er mache deutlich, "wie wichtig eine Debatte über den tief sitzenden Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft, seine Hintergründe und die erforderlichen Gegenmaßnahmen" sei, teilte er der DW mit. Das sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Veränderungen nach Halle
Der Angriff vor der Synagoge hat erneut die Diskussion um die Frage befeuert, wie gut Synagogen in Deutschland geschützt sind. Die Sicherheit von jüdischen Einrichtungen war eines der drängendsten Themen nach dem Anschlag in Halle im vergangenen Jahr. Dass am Ende nur eine Holztür zwischen dem schwer bewaffneten Angreifer und den Betenden in der Synagoge stand, lag laut Kritikern auch an der Polizei in Sachsen-Anhalt. Die Synagoge hatte keinen dauerhaften Polizeischutz, nur ab und zu fuhr ein Streifenwagen vorbei.
Der mangelnde Schutz jüdischer Einrichtungen ist besonders in Deutschland angesichts der NS-Vergangenheit ein sensibles Thema. Auch deshalb ist seit dem Anschlag in Halle viel passiert. In den meisten Bundesländern sind seitdem die Mittel für jüdische Gemeinden aufgestockt worden. Das hat eine Befragung des "Mediendienstes Integration" unter allen Innenministerien ergeben. Damit könnten die Gemeinden in schusssichere Türen, Zäune oder Einlassschleusen investieren. Zusätzlich hat die Bundesregierung angekündigt, weitere 22 Millionen Euro zum Schutz jüdischer Einrichtungen bereitstellen zu wollen, um die Schutzvorkehrungen auf ein bundeseinheitliches Niveau zu heben.
In Hamburg, wo nun der mutmaßlich antisemitische Angriff passierte, habe laut der Befragung des "Mediendienstes Integration" die Behörde für Inneres und die Senatskanzlei für alle Einrichtungen "die Gefährdungslage überprüft, und auch, ob es bauliche Schwachstellen an den Gebäuden" gebe.
Problem Finanzierung
Trotz des verstärkten Engagements sind viele jüdische Gemeinden noch immer auf sich selbst zurückgeworfen. Der Autor des Buches "Terror gegen Juden", Ronen Steinke, hat nach dem Anschlag in Halle die Sicherheitslage jüdischer Einrichtungen recherchiert. Für ihn steht fest: "Nicht 50, 70 oder 80 Prozent der Sicherheitskosten der Synagogen müssen vom Staat geleistet werden, sondern 100 Prozent", sagte der gelernte Jurist bei einem Pressegespräch vor wenigen Wochen in Berlin. Denn Gefahrenabwehr sei Aufgabe des Staates, nicht der Betroffenen. "Alles andere ist nicht zu respektieren."
Am stärksten bei den Kosten für die Sicherheit fällt bei den meisten jüdischen Gemeinden privates Sicherheitspersonal ins Gewicht. Die jüdische Gemeinde Frankfurt etwa, mit 6500 Mitgliedern eine der größten Deutschlands, gibt jährlich 90 Prozent ihres über eine Million Euro großen Sicherheitsetats für private Wachleute aus. Auch, weil die Polizei nur im Notfall das Gelände der jüdischen Einrichtungen betreten darf. Sie soll nicht den Eindruck erwecken, sie arbeite für die Gemeinde. Zwar steht auch in Frankfurt ein Polizeiwagen rund um die Uhr vor den Einrichtungen. Der Gemeinde ist dieser Schutz im Zweifelsfall aber zu gering. Deshalb investiert sie ebenso sehr viele andere jüdische Gemeinden in Deutschland in eigenes Sicherheitspersonal.
"Warum immer wieder?"
In Hamburg waren es am Wochenende Objektschutzkräfte der Polizei, die den Angreifer überwältigten und festnahmen, wie ein Polizeisprecher der Deutschen Presse-Agentur mitteilte. Die Polizeipräsenz sei darüber hinaus anlässlich des Laubhüttenfestes vor der Synagoge erhöht worden, teilte ein Polizeisprecher dem Redaktionsnetzwerk Deutschlands mit. Für Antisemitismusbeauftragten Klein ist der Umstand, dass der Angreifer von polizeilichen Kräften überwältigt worden sei, ein "deutlicher Beleg" dafür, dass die Bundesländer ihre Verantwortung nach besserem Schutz für jüdische Einrichtungen sehr ernst nähmen, schrieb er der DW auf Anfrage.
Die jüdische Gemeinde Hamburg selbst äußert sich auf ihrer Facebook-Seite. Sie bestätigt zwar, dass die Sicherheitskräfte vor Ort "korrekt reagiert" hätten, allerdings werde die Gemeinde sehr genau prüfen müssen, "wie wir in Zukunft solche Angriffe verhindern können".
Entsetzt äußerte sich der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, angesichts der Gewalttat. Er sei traurig darüber, dass ein Jahr nach dem Anschlag von Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur erneut eine deutsche jüdische Gemeinde mit einem "gewalttätigen, antisemitischen Terrorakt" konfrontiert worden sei, erklärte Lauder. Zwar habe die Polizei vor Ort rasch reagiert, um den Angreifer von weiteren Gewalttaten abzuhalten, jedoch sei die Polizeipräsenz zu niedrig gewesen, um den Anschlag auf den 26-Jährigen zu verhindern. Deutsche Behörden müssten sich nun die Frage stellen: "Warum geschieht dies immer wieder?"