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Angst vor neuer Protestwelle

Marcus Lütticke17. Mai 2014

Korruptionsvorwürfe, Internetzensur, tretender Regierungsberater: Ein Jahr nach den Protesten vom Gezi-Park steht die türkische Regierung massiv in der Kritik - und sitzt dennoch fest im Sattel.

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Demonstranten in Istanbul (Foto: Gaia Anderson)
Bild: Gaia Anderson

Die Bilder gleichen sich - mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen geht die türkische Polizei gegen eine aufgebrachte Menge von Demonstranten vor. Aktueller Anlass für die Proteste ist das schwere Grubenunglück in Soma. Vor einem Jahr löste ein geplantes Bauprojekt im Gezi-Park in Istanbul die Demonstrationen aus. Heute wie vor einem Jahr steht hinter den Protesten weit mehr als ein einzelnes Ereignis, nämlich eine tief sitzende Unzufriedenheit mit Regierungschef Recep Tayyip Erdogan und der Politik seiner islamisch-konservativen AKP.

Gleichzeitig scheint die Macht des Regierungschefs gefestigt zu sein. Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr erreichte seine Partei 45 Prozent der Stimmen - und konnte damit gegenüber den Kommunalwahlen 2009 noch einmal deutlich zulegen.

Demonstranten in Istanbul werden mit Wasserwerfer angegriffen (Foto: picture-alliance/dpa)
Istanbul nach dem Grubenunglück von Soma - Bilder wie von vor einem JahrBild: picture-alliance/dpa

Sperren im Internet

Auch die jüngsten Debatten über die Beschränkung der freien Meinungsäußerung in der Türkei durch eine zwischenzeitliche Sperrung des Kurznachrichtendienstes Twitter und eine anhaltende Blockade des Videoportals YouTube haben Erdogan innenpolitisch kaum geschadet. "Das ist nur ein Thema für die großen Städte oder für Studenten", sagt Murat Erdogan, Politikwissenschaftler von der Hacettepe Universität in Ankara. "Das ist kein Thema für die breite Gesellschaft. Viele haben überhaupt keine Ahnung, was das Problem ist und was verboten wurde."

Und dennoch, so Murat Erdogan, gebe es seit den Protesten von vor einem Jahr eine Art "Geziphobie" bei der Regierung - eine Angst vor der Unkontrollierbarkeit einer großen Protestwelle. Für Erdogan sei es nun mal viel einfacher, gegen die schwache politische Opposition im Parlament zu kämpfen, als gegen Massendemonstrationen auf den Straßen.

Schwache Opposition

Und genau diese schwache Opposition ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers einer der Hauptgründe für Erdogans anhaltenden Erfolg. Für die Schwäche der Opposition gibt es viele Ursachen. Das türkische Wahlsystem sieht eine Sperrklausel von zehn Prozent bei den Wahlen zum Parlament, der "Großen Nationalversammlung", vor. Die AKP trat erstmals 2002 bei den Parlamentswahlen an. Obwohl sie nur 34 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, errang sie - dank des Wahlrechts - fast zwei Drittel der Parlamentssitze.

Parlament in Ankara (Foto: picture-alliance/dpa)
Starke Regierung, schwache Opposition - das Parlament in AnkaraBild: picture-alliance/dpa

Außerdem, so Murat Erdogan, verstricke sich die Opposition in ideologischen Debatten: "Die linke Partei hat bisher wenig Interesse an den Problemen der einfachen Leute gezeigt. Für sie waren Kemalismus und die türkische Republik wichtig."

Von der Straße ins Parlament

Auch die Protestbewegung des Gezi-Parks habe es bisher versäumt, ihre politischen Forderungen zu bündeln und unter dem Dach einer Partei zusammenzuführen, meint Ekrem Eddy Güzeldere, politischer Analyst und Journalist aus Istanbul. Das hänge zum einen damit zusammen, dass Parteigründungen in der Türkei sehr kompliziert, teuer und administrativ schwierig sind, zum anderen damit, dass es keine organisierte Gruppe war, die dort zusammengekommen ist, sondern eine unhierarchische Gemeinschaft mit verschiedenen Zentren.

Es sei aber, so Güzeldere, durch die Protestbewegung zumindest ein Prozess in Gang gekommen, der die Zivilgesellschaft nachhaltig verändert habe. "Bis sich das aber in eine politische Form gießt oder in den bestehenden politischen Strukturen einflussreicher wird, das könnte bis zu einem Jahrzehnt dauern."

Vor der Präsidentenwahl

Im August stehen in der Türkei Präsidentschaftswahlen an. Zum ersten Mal wird der türkische Staatspräsident dann direkt vom Volk gewählt. Bis Anfang Juni haben die Parteien noch Zeit, ihre Kandidaten zu nominieren. Es gilt als wahrscheinlich, dass Regierungschef Recep Tayyip Erdogan für die AKP antreten wird, da eine weitere Amtszeit als Ministerpräsident formal ausgeschlossen ist.

Erdogan im Wahlkampf (Foto: picture-alliance/AP)
Erfolgreicher Wahlkämpfer - Recep Tayyip ErdoganBild: picture-alliance/AP

Offiziell erklärt hat Erdogan seine Kandidatur bisher nicht. Beobachter werten seine polarisierenden Auftritte aber als klares Zeichen dafür, dass der Wahlkampf bereits eingesetzt hat. Die jüngsten Schlagzeilen über das wenig einfühlsame Auftreten Erdogans nach dem Grubenunglück in Soma und das Foto seines auf einen Demonstranten eintretenden Beraters werden auf seine Erfolgschancen bei der Wahl kaum einen Einfluss haben, glaubt Journalist Güzeldere. "Das Bild des tretenden Beraters ist in keiner der AKP-nahen Zeitungen gedruckt worden, deshalb bekommen davon die normalen AKP-Wähler gar nichts mit."