Anis Amri und die Rolle des Verfassungsschutzes
8. Oktober 2020Anis Amri - der Name des Attentäters vom Berliner Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 wurde zum Synonym für den schlimmsten islamistischen Anschlag in Deutschland. Elf Menschen starben, als der Tunesier mit einem gestohlenen Lastwagen in die Menge raste. Zuvor hatte er den Fahrer des Sattelschleppers ermordet. Die Tat war zugleich die schwerste Niederlage der Sicherheitsbehörden in ihrem Kampf gegen religiös motivierten Terror. Warum sie trotz vieler Hinweise auf die Gefährlichkeit des kriminellen Asylbewerbers nicht verhindert werden konnte, das versucht ein Untersuchungsausschuss des Bundestages seit März 2018 herauszubekommen.
In der inzwischen 103. Sitzung des Gremiums war am Donnerstag ein Zeuge geladen, der zum Zeitpunkt des Anschlags Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) war: Hans-Georg Maaßen. Der 57-jährige Jurist war 2018 von Bundesinnenminister Horst Seehofer in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. Allerdings nicht wegen Kritik an seiner Amtsführung im Fall Amri, sondern wegen umstrittener Äußerungen nach rechtsextremen Exzessen in Chemnitz (Bundesland Sachsen).
Aber auch im Zusammenhang mit dem Terroranschlag von Berlin sieht sich Maaßen seit langem heftiger Kritik ausgesetzt. Vor allem wegen seiner Behauptung, der mehrere Monate überwachte spätere Attentäter sei ein "reiner Polizeifall" gewesen. Dem widersprechen die Abgeordneten aller Fraktionen im Untersuchungsausschuss. Allein schon deshalb, weil Amri im Jahr des Anschlags elfmal Thema im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) von Bund und Ländern war. Dort analysieren alle Sicherheitsbehörden gemeinsam regelmäßig die Gefährdungslage in Deutschland.
Vor Berlin gab es die Anschläge in Paris, Brüssel und Nizza
Dass islamistische Terroristen auch die Bundesrepublik 2016 im Visier hatten, stand für die Sicherheitsbehörden außer Zweifel. Maaßen verwies auf die Anschläge in Paris 2015 sowie Brüssel und Nizza ein Jahr später mit insgesamt mehreren hundert Toten. In seinem ausführlichen Statement zu Beginn der Befragung erinnerte der ehemalige Verfassungsschutz-Chef zudem an die hohe Zahl der Gefährder. So werden Personen bezeichnet, denen ein Attentat zugetraut wird. Ihre Zahl habe sich zwischen dem Beginn seiner Amtszeit 2012 und dem Jahr des Anschlags 2016 von 123 auf 584 erhöht. Das war weit mehr als eine Vervierfachung.
Observationen rund um die Uhr seien aber aufgrund des hohen Personal- und Zeitaufwands nur in Einzelfällen möglich, betonte Maaßen. Man habe sich bemüht, Informationen "anzureichern", damit Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln könnten. Als Beispiel erfolgreicher Arbeit nannte er unter anderem die aufgedeckten Pläne für einen Anschlag auf den Berliner Flughafen Tegel im September 2016. Der syrische Asylbewerber Dschaber al-Bakr war mutmaßlich Mitglied der Terror-Miliz "Islamischer Staat" (IS). Kurz nach seiner Festnahme im Oktober 2016 nahm er sich in der Untersuchungshaft das Leben.
Anis Amri hatte falsche Namen und handelte mit Drogen
Zwei Monate später schlug Anis Amri in Berlin zu. Auch er war als Asylbewerber nach Deutschland gekommen und narrte die Behörden mit mehreren falschen Identitäten. Seinen Lebensunterhalt organisierte er sich mit erschlichenen Sozialleistungen für Flüchtlinge und Drogenhandel. All das war unterschiedlichen Sicherheitsbehörden teilweise bekannt, sie fügten es aber nicht zu einem Gesamtbild zusammen. Fehler des von ihm damals geführten Verfassungsschutzes kann Maaßen aber auch vier Jahre später nicht erkennen.
Als Bestätigung seiner Einschätzung, es sei ein "reiner Polizeifall" gewesen, verwies Maaßen in seiner Zeugen-Befragung auf den gleichen Befund des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste (PKGr) im März 2017. Zu diesem Zeitpunkt, drei Monate nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, lebte Amri schon längst nicht mehr. Er war vier Tage nach seiner Tat auf der Flucht in Italien von der Polizei erschossen worden.
Maaßen hatte einen V-Mann in der Berliner Salafisten-Szene
Maaßen verwahrte sich in seiner Befragung im Untersuchungsausschuss auch gegen den Vorwurf, die Unwahrheit über einen eigenen Informanten in Amris Umfeld gesagt zu haben, eine sogenannte V-Person. Dabei habe es sich um eine "Quelle" in der Berliner Fussilet-Moschee gehandelt, die keinen Kontakt zu Amri gehabt habe. "Der Vorwurf der Verschleierung ist falsch", wehrte sich Maaßen gegen entsprechende Darstellungen. Das inzwischen geschlossene islamische Gotteshaus galt als Treffpunkt der radikalen Salafisten-Szene.
Er habe nichts verschwiegen und wolle nichts kleinreden, sagte der frühere Verfassungsschutz-Chef. Aber die Federführung im Fall Amri habe durchgängig bei den Polizei-Behörden gelegen. Mindestens sieben Staatsanwaltschaften hätten ermittelt. Bis heute sei ihm unverständlich, warum Polizei, Ausländerbehörden und Staatsanwaltschaften 2016 nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hätten, um Amri in seine Heimat abzuschieben. Sein Asylantrag sei schließlich abgelehnt worden. Maaßens Fazit: Der folgenschwerste islamistische Terroranschlag in Deutschland sei vermeidbar gewesen. "Er hätte nicht stattfinden müssen, und das ist für mich die besondere Tragik."