Anno dunnemals
3. Dezember 2002Das unweit des Faust-Städtchens gelegene Münstertal gehört fraglos zu den idyllischsten Ecken des an idyllischen Ecken nicht armen Schwarzwaldes. Das Touristen-Auge freut sich an sattgrünen Bergwiesen, dunklen Tannen und der Architektur der Schwarzwaldhöfe mit ihren weit heruntergezogenen Dächern. Zu den gängigen Klischees fehlen einzig die Bollenhüte, die es in diesem Teil des Schwarzwaldes außerhalb von Andenkengeschäften nicht gibt.
Sich vorzustellen, welche Härten das Leben in dieser Heimatfilm-Kulisse früher einmal hatte, ist angesichts der Idylle nicht leicht. Das dachte sich auch die Wissenschaftsredaktion des Südwestrundfunks. Der SWR gibt nun mittels des ersten nichtfiktionalen Ausflug des deutschen Fernsehens in die Vergangenheit Nachhilfe: "Schwarzwaldhaus 1902 – Leben wie vor hundert Jahren" heißt die an vier Abenden dokumentierte Zeitreise der Berliner Familie Boro.
Schweineborsten, Fett und Seife
Und wahrscheinlich fehlte den normalerweise in einem Reihenhaus in Berlin-Lichterfelde lebenden Boros bei ihrer Bewerbung auch ein wenig Phantasie, um sich ausmalen zu können, auf welche Tortur sie sich da einlassen würden. Für zehn Wochen - acht im Sommer, zwei im Winter - lebte die fünfköpfige Familie auf dem "Kaltwasserhof" . Den hatte der Südwestrundfunk konsequent auf den zivilisatorischen Zustand von Anno 1902 versetzt.
Elektrizität und Wasserspülung hatte sich "dunnemals" im Südschwarzwald noch längst nicht durchgesetzt und so gab es für die Boros als Wasserquelle auch nur den Bach vor der Tür, für Wärme Holz aus dem Wald, statt der gewohnten Zahnbürste eine aus Schweineborsten, die Paste besteht aus Seife und Fett. Selbst die Kleidung wurde rekonstruiert - und so mussten die Boros lernen, dass im Schwarzwald des Jahres 1902 auch noch keine Unterwäsche getragen wurde. Aus postmodernen Zeiten gibt es auf dem Hof nur ein knallrotes Telefon in einer versiegelten Kiste. Für den Notfall.
Die Regeln für die Boros waren klar: Sie dürfen sich frei bewegen – aber nur zu Fuß. Gegessen wird, was Stall, Acker und Garten hergeben, Geld muss durch den Verkauf eigener Produkte auf dem Markt erwirtschaftet werden. Statt Abenteuerurlaub mit Schwarzwaldromantik erwartete die Familie knochenharte Schinderei: Früh um fünfe raus, melken, misten, füttern, Eier sammeln, Frischfutter einholen. Achtzehn Stunden dauert so ein Tag.
"Wie Marsmännchen"
Und oft noch länger, weil die Berliner natürlich fast alles falsch machen, was man falsch machen kann. "In den ersten Tagen, sind wir über den Hof gefallen wie Marsmenschen", erinnert sich Vater Ismael. Die Töchter Sera und Raya, 17 und 19 Jahre alt, bogen sich vor lachen, als sie zuhause in Berlin an Gummi-Eutern das Melken übten. Im Stall stellt es sich als harte Arbeit heraus. Und weil sie zu lange brauchen, entzündet sich auch noch der Euter der Kuh. Die Hühner legen keine Eier, weil die Zusammensetzung des Futters nicht stimmt. Wegen des Angstquiekens der Sau namens "Barney" beim Heraustreiben aus dem Stall, liegt die gesamte Familie psychisch danieder. Die Kartoffelfäule holt sich die Hälfte der Ernte. Und natürlich hätte keine Bauernfamilie den richtigen Zeitpunkt für die Heuernte wegen des Geburtstages einer Tochter verpasst.
Tortur mit Happy End
Trotz aller kleinen, mittleren und großen Katastrophen haben es die Boros aber nach zehn Wochen geschafft. "Alle Achtung, was ihr hier geleistet habt", lobt Hof-Nachbar Glockner die Boros nach dem Experiment. "Ich hatte euch keine Chance gegeben." Und die Familie Boro ist dem Vernehmen nach durch die physischen und psychischen Belastungen näher zusammengerückt. Wie sie die zehn Wochen im Nachhinein beurteilen? Die Kinder sind glücklich, wieder in Echtzeit zu leben, Mutter Marianne liebäugelt erstrecht mit einem Rückzug auf den Bauernhof, Vater Ismael vermisst in Berlin die Ruhe.
Und die Wissenschaftsredaktion des SWR kann ihren Zuschauern Erkenntnisse anbieten: Das Leben der Vergangenheit war hart. Und Berliner sind keine geborenen Bauern – zumindest nicht im herkömmlichen Sinn.
Sendetermine: 2., 4., 6., und 9. Dezember 2002, jeweils um 21.45 Uhr, ARD