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Literatur

Anonyma: "Eine Frau in Berlin"

Courtney Tenz Sabine Peschel
6. Oktober 2018

Hunger. Bomben. Berichte über Gewalt durch alliierte Soldaten. Berlin in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs war kein Ort für Frauen, wie dieses Tagebuch einer anonymen Journalistin zeigt.

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Filmszene aus "Anonyma - Eine Frau in Berlin"
Max Färberböcks Verfilmung zeigte das Leid der Frauen im besetzten Berlin, ohne die Täter zu verteufelnBild: picture-alliance/Everett Collection

Persönliche Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg gibt es viele. Allerdings schrieben nur wenige Frauen in Deutschland über ihre Erfahrungen in den letzten Tagen des Krieges. Veröffentlicht wurden die Berichte von Ruth Andreas-Friedrich, Ursula von Kardorff, Margret Boveri und Marta Hillers. Sie alle schrieben über die Zeit des Zusammenbruchs des "Dritten Reiches" und den Beginn der Besatzungszeit. Über ihr Leben in Trümmern inmitten von Feuerstürmen, die Suche nach Nahrung, um den allgegenwärtigen, nagenden Hunger zu bekämpfen, und bei Bombenangriffen das Ausharren in dunklen Kellern, während man kleine Kinder mit Liedern zu beruhigen suchte. Und über die Zeit, als dann die Alliierten kamen, die späteren Siegermächte.

Manche Historiker gehen davon aus, dass während des Krieges fast zwei Millionen deutsche Frauen im Alter von acht bis 80 Jahren vergewaltigt wurden. Das Tagebuch von "Anonyma", geschrieben von einer jungen Frau in den Dreißigern, erzählt die zwei Monate ihres Lebens während der Schlacht um Berlin, die Zeit vom 20. April bis 22. Juni 1945. Ihre Aufzeichnungen enthüllen schockierend detailliert ein Leid, das zwar ein offenes Geheimnis war, in der deutschen Gesellschaft aber jahrzehntelang totgeschwiegen wurde.

"Ein graues Massenschicksal ungezählter Frauen"

Wie viele Berliner Frauen 1945 war auch "Anonyma" Siegerbeute der russischen Soldaten, Objekt ihrer aggressiven Lust. Über ihre Vergewaltigungen und die anderer Frauen berichtet sie unsentimental, auch schreckliche Geschichten wie die einer Frau, die zwanzig Mal hintereinander vergewaltigt wurde: "Aus ihrem käsigen Gesicht hängt der verschwollene Mund wie eine blaue Pflaume. (…) Wortlos öffnet die Rothaarige ihre Bluse, zeigt uns ihre zerbissenen, verfärbten Brüste. Kann's kaum hinschreiben, es würgt mich wieder." 

"Eine Frau in Berlin" von Anonyma

Was Hillers in drei dicht beschriebenen Schulheften festhielt, war viel mehr als ihre persönliche Erinnerung. 1954 erkannte ein New Yorker Verleger, dem der Schriftsteller Kurt W. Marek alias C. W. Ceram eine Maschinenabschrift des Textes nahegebracht hatte, die Bedeutung des Zeitdokuments und gab eine englische Übersetzung heraus. Weitere Übersetzungen erschienen, doch es dauerte Jahre, ehe die Schreiberin einer deutschsprachigen Ausgabe zustimmte. Als diese endlich 1959 erschien, blieb die Autorin anonym. Nicht lediglich aus Selbstschutz, die Anonymisierung sollte auch verhindern, dass ihr individuelles Schicksal besonders hervorgehoben wurde: "Hier wird kein interessanter Einzelfall geschildert, sondern ein graues Massenschicksal ungezählter Frauen", bemerkt "Anonyma" im Vorwort zur deutschen Ausgabe.

"Frauen fallen in der Heimat"

Die deutsche Fassung rief Ende der Fünfzigerjahre nur ein geringes und eher kritisches Echo hervor – ihre Geschichten beschmutzten die Ehre der deutschen Frauen, war der Vorwurf. Dazu mag auch der Tonfall beigetragen haben, in dem "Anonyma" als vergewaltigte Frau von ihren Erlebnissen berichtete: nicht zimperlich, nicht verzweifelt, nicht aus der Opferposition, sondern zynisch, sarkastisch, ironisch. Junge Soldaten fielen an der Font, Frauen fielen in der Heimat, so scheinbar lapidar klang ihr Kommentar.

Für die Frauen, deren Körper zu einer Verlängerung des Schlachtfeldes wurden, verwischten sich die Grenzen zwischen Vergewaltigung und Prostitution – "es gehörte gewissermaßen dazu". "Essen anschlafen" , nennt die Tagebuchschreiberin ihr Verhältnis zu einem russischen Offizier. "Überhaupt fangen wir langsam an, den Schändungsbetrieb humoristisch zu nehmen, galgenhumoristisch." Diese Ironie half der jungen Journalistin nicht nur, ihre Erfahrungen zu bewältigen. Sie ermöglichte ihr auch, sich von eingeimpften Feindbildern zu distanzieren. Trotz vieler Grausamkeiten sah sie die russischen Eroberer als Menschen, als ganz verschiedene Typen und Individuen.

Das Foto von April 1945 zeigt die Eroberung Berlins durch Rotarmisten
April 1945: Rotarmisten erobern Berlin Bild: picture-alliance/RIA Nowosti

Die Unfähigkeit der heimkehrenden Männer

Als die Russen am 8. Mai 1945 dann plötzlich aus ihrem Block verschwunden sind, notiert sie: "Diese kollektive Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv überwunden werden. Jede hilft jeder, indem sie darüber spricht, sich Luft macht, der anderen Gelegenheit gibt, sich Luft zu machen, das Erlittene auszuspeien." 

Trotzdem – dass für viele Frauen mit dem Kriegsende noch kein Frieden einzieht und die körperlichen und seelischen Narben noch frisch sind, stellt die Autorin an sich selbst fest, als ihr Freund aus dem Krieg zurückkehrt. "Bin erst mal für den Mann verdorben", konstatiert sie nüchtern, als sie trotz aller Wiedersehensfreude im Bett "eiskalt" bleibt. In der Nachkriegsgesellschaft herrscht Unverständnis zwischen Mann und Frau: "Ihr seid schamlos wie die Hündinnen geworden, ihr alle miteinander hier im Haus", kommentiert der Zurückgekehrte befremdet, unfähig zum Mitleid.

Erfolg nach 50 Jahren

Nachdem ihr Buch in Deutschland negativ aufgenommen worden war, hatte seine Verfasserin eine neuerliche Veröffentlichung zu ihren Lebzeiten abgelehnt. Zwei Jahre nach ihrem Tod, 2003 erschien der Bericht ein zweites Mal, in der "Anderen Bibliothek" des Eichborn Verlags. "Anonyma: Eine Frau in Berlin" wurde prompt ein Bestseller. Erst mit dieser Veröffentlichung wurde auch die Identität der Autorin bekannt: die Journalistin Marta Hillers. Wie authentisch das fast romanhaft erzählte Dokument ist, lässt sich nicht überprüfen. Marta Hillers Freund Kurt W. Marek hatte ihre handschriftlichen Aufzeichnungen für seine Herausgabe des Tagebuchs vorliegen, wie er im Nachwort zur englischen Ausgabe schreibt. Wie stark der Autor des Archäologie-Bestsellers "Götter, Gräber und Gelehrte" in den Text eingegriffen hat, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Original-Kladden mit den eingelegten Zetteln und stenografierten Notizen sind bis heute nicht zugänglich.

2008 kam die Verfilmung der Berichte unter der Regie von Max Färberböck ins Kino. Nina Hoss verkörperte die Tagebuchschreiberin, die Jahre nach Kriegsende stellvertretend für viele Frauen das scheinheilige Schweigen brach.

 

Anonyma, "Eine Frau in Berlin" (1959), 2008 neu verlegt im btb Verlag, derzeit nur antiquarisch erhältlich

Die Journalistin Marta Hillers (1911-2001) hatte in Paris an der Sorbonne Geschichte und Kunstgeschichte studiert und arbeitete während der Nazi-Zeit als freie Journalistin für Zeitungen und Magazine. In den Fünfzigerjahren zog sie in der Schweiz, wo sie bis zu ihrem Tod lebte.