Goethepreis Adonis
28. August 2011Tiefe Trauer und Entsetzen über den Verlust der Humanität durchziehen das Gedicht "New York" von Adonis: "wie Pflanzen in gläsernen Gärten leben, Elende, unsichtbar, die wie Staub in das Gewebe der Leere getaucht sind - Opfer, zu Spiralen verzerrt". Dieses Gedicht, Teil seines Gedichtzyklus "Zeit zwischen Rose und Asche", hat er bei den Berliner Festspielen im Jahr 2003 vorgelesen.
Der Dichter und Publizist Adonis ist gebürtiger Syrer. Sein Name ist eigentlich Ali Ahmad Said Esber. Er wurde 1930 in Kassabin, einem Dorf im Nordwesten Syriens geboren. Für den Besuch der weiterführenden Schule bekam er ein Stipendium höchstpersönlich vom damaligen syrischen Präsidenten. Adonis hatte ihn während dessen Besuch in Nordsyrien durch das Rezitieren von Gedichten beeindruckt. Während seines Studiums der Philosophie an der Universität von Damaskus vertiefte er sich in die arabisch-islamische Bildungstradition. Er begann Gedichte im klassischen Stil zu schreiben, die aber nicht gleich veröffentlicht wurden. Erst als er ein zuvor abgelehntes Gedicht unter dem Pseudonym Adonis, dem Namen eines phönizisch-griechischen Fruchtbarkeitsgottes, einreichte, hatte er Erfolg.
"Der wichtigste Dichter"
Nachdem er ein Jahr wegen politischer Aktivitäten in Damaskus im Gefängnis gesessen hatte, floh Adonis nach Beirut, wo er Khalida Said heiratete, die später eine der bedeutendsten Literaturkritikerinnen der arabischen Welt wurde. In seiner neuen Heimat arbeitete er als Lehrer und Journalist und kam mit einer aktiven Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und politischen Exilanten in Berührung. Hier lernte er auch die internationale Literatur kennen.
Sein literarischer Durchbruch stellte sich schließlich mit dem Erscheinen seines dritten Gedichtbandes "Die Gesänge Mihyars des Damaszeners" Anfang der 60er Jahre ein. Von da an war er berühmt und wurde als wichtiger Dichter anerkannt. 1973 promovierte er mit dem Thema "Das Statische und das Dynamische". Seine Doktorarbeit wurde zu einer der wichtigsten Quelle der arabischen Lyrik seit vorislamischer Zeit.
Adonis ist aber auch ein Araber, mit Lesern in 22 Ländern der Region. Viele arabische Literaten bewundern seinen modernen und gleichzeitig eleganten Stil. Damit hat er die gesamte arabische Dichtkunst vom Nahen Osten bis nach Nordafrika beeinflusst. Adonis löste sich von der arabischen Dichtertradition durch die Schaffung neuer Formen. Der marokkanische Schriftsteller Taher Ben Jalloun sagte 1982 in "Le Monde", Adonis sei "der wichtigste noch lebende Dichter der arabischen modernen Lyrik".
Prophetische Weitsicht
Schließlich ist Adonis auch ein internationaler Denker. Sein Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche. Die erste deutsche Übersetzung "Der Baum des Orients" erschien 1989. Ihr folgten "Leichenfeier für New York" 1995 und 1998 "Die Gesänge Mihyars des Damaszeners".
Politisch ist er immer ein kritischer Kopf geblieben – mit fast prophetischer Weitsicht. In einem Interview mit der Deutschen Welle im Jahr 2001 schilderte er, wie er die Entwicklung der Verhältnisse in der arabischen Welt einschätzte: "Wenn sich in der arabischen Region die politischen Verhältnisse nicht ändern, wenn unsere Machthaber nicht an das Volk denken, wenn sie sich nur mit dem Verbleib an der Macht beschäftigen, dann werden sie Katastrophen erleben, die keiner vorhersehen kann."
Im Sinne Goethes
Adonis ist bekennender Laizist und überzeugt, dass nur die Säkularisierung der Gesellschaft die arabische Kultur und Politik weiterentwickeln kann. Dem Wochenblatt "Die Zeit" sagte er 2002: "Immer wenn die Religion nichts vorschreibt, ist die arabische Kultur großartig. Alles, was in der arabischen Kultur frei davon ist, ist außergewöhnlich." Seine Poesie in seinen Büchern, Artikeln und Vorträgen versteht er als zivilisatorisches Kulturprojekt, das in der Lage ist, die arabische Geschichte neu zu schreiben und zu definieren.
Inzwischen pendelt Adonis zwischen Paris und Beirut. Ost und West, glaubt Adonis, begegnen sich vor allem durch Kunst und Poesie. Das ist ganz im Sinne Goethes, der bereits zu seiner Zeit erkannte: "Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen." Aber Adonis erkennt, dass "Ost oder West zwei Begriffe sind, die mehr ideologisch als geographisch auseinander gehen".
Autorin: Lina Hoffmann
Redaktion: Jan-Philipp Scholz