Aramäisch: Die Sprache Jesu in Deutschland
29. März 2024Es ist, sagt Linda Güven, eine bunte Gemeinde. "Kunterbunt", betont sie. Die 35-jährige Lehrerin gehört zur syrisch-orthodoxen Kirchengemeinde "Mor Petrus und Mor Paulus" in Bietigheim-Bissingen, einer Stadt in Baden-Württemberg, rund 20 Kilometer nördlich von Stuttgart. Die Gemeinde konnte im Jahr 2019 einen beeindruckenden Kirchenbau einweihen. Damit ging ein jahrzehntelang gehegter Traum in Erfüllung.
"Wir haben hier Gläubige, die als junge Gastarbeiter schon vor über 50 Jahren hierher kamen", erläutert Güven. "Aber es gibt genauso Leute, die in den 1990er Jahren die Heimat verlassen mussten. Und nun Flüchtlinge, die während der vergangenen zehn Jahre aus dem Irak oder wegen des Bürgerkriegs in Syrien zu uns kamen."
Gebrochenes Deutsch und Schwäbisch
Seit langem haben die syrisch-orthodoxen Christen aus Bietigheim-Bissingen und einigen Nachbarorten ihren gemeinsamen Treffpunkt am Rande eines Gewerbegebiets. Die Gemeinde lädt einmal im Monat zum Rentnertreff. Die Jüngsten kommen Sonntag für Sonntag zur Krabbelgruppe, und es gibt eine rege Jugendarbeit.
Die alten Gemeindemitglieder mögen nur gebrochen Deutsch sprechen. Bei manchem der Jüngeren mischen sich in das perfekte Hochdeutsch schwäbische Töne. "Wer hier seit zwei oder drei Generationen lebt, der ist oft etabliert und hat studiert. Wir haben Ärzte, Anwälte, Lehrer in der Gemeinde", sagt die Lehrerin.
Syrisch-orthodoxe Christen, so Güven, setzten immer auf die Kirche. "Wir haben kein Konsulat, keine Auslandsvertretung, denn wir haben ja nun mal keinen Staat. Die erste Anlaufstelle bleibt die Kirche. Da wird Halt gesucht. Und auch bei der letzten Flüchtlingsbewegung versuchten dann die Geistlichen, mit den Gemeinden zu helfen und zu vermitteln."
Die Herkunftsregion der syrisch-orthodoxen Kirche ist das heutige Antakya in der Türkei. Eine Stadt, in der schon sehr früh nach dem Tod Jesu eine christliche Gemeinde entstand, eine der ersten überhaupt. Diese Region im Südosten der Türkei sowie im Norden Syriens ist ursprünglich die Heimat der syrisch-orthodoxen Kirche.
Jesus sprach Aramäisch
Wie alt deren Tradition ist, zeigt ihre Sprache. Denn die Mitglieder dieser Kirche sprechen untereinander und auch in der Liturgie Aramäisch. International gehört Aramäisch seit langem in die Gruppe der bedrohten Sprachen.
Dabei gilt es - wissenschaftlich gesichert - als die Sprache Jesu: So sprach der Mann aus Nazareth, der zum Religionsgründer wurde. Das Markus- wie auch das Matthäusevangelium zitieren in der Schilderung des Todes Jesu als dessen letzte Worte am Kreuz einen verzweifelten Ausruf, in griechischer Schrift, aber bemerkenswerterweise in aramäischer Sprache: "Eloi eloi lamma sabachthani - mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Die Geschichte der aramäischen Christen ließe sich weltweit erzählen. Nur noch einige Zehntausend von ihnen leben in der alten Heimat, in der Bergregion des Turabdin im Südosten der Türkei. Die rund fünf Millionen Mitglieder dieser Kirche leben heute buchstäblich weltweit verstreut: in Australien, Indien oder den USA, in Lateinamerika und europäischen Ländern. Das liegt an vielen Verfolgungswellen durch das Osmanische Reich ab dem Jahr 1915, denen weit über eine Million Christen zum Opfer fielen, darunter auch hunderttausende syrisch-orthodoxe Christen.
Aramäische Gemeinden in ganz Deutschland
Wohl über 120.000 Sprecher sind es heute in Deutschland. Die größeren westdeutschen Bundesländer haben die syrisch-orthodoxe Kirche rechtlich anerkannt und ermöglichen beispielsweise den Religionsunterricht. Und während Katholiken und Protestanten Jahr für Jahr hunderttausende Kirchenaustritte vermelden und wegen sinkender Mitgliederzahlen Kirchengebäude aufgeben, etablieren sich orthodoxe und orientalische Kirchen aus dem Nahen Osten.
In vielen Städten und Gemeinden, überwiegend in den westlichen Bundesländern, gibt es gut 60 aramäischsprachige Kirchengemeinden. Ihr Erzbischof Mor Philoxenus Mattias Nayis residiert in Warburg in Westfalen. Dort haben die Syro-Aramäer schon vor Jahrzehnten ein früheres katholisches Kloster übernommen.
Linda Güven hat eine Mission. Denn die studierte Lehrerin darf nicht nur Englisch, Geschichte und katholische Religion unterrichten. Sie wurde an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, die seit Herbst 2021 einen entsprechenden Studiengang anbietet, auch im Fach Theologie und Religionspädagogik für die syrisch-orthodoxe Kirche ausgebildet. Bislang erteilten Priester der Kirche, die zumeist vor Jahrzehnten im Turabdin gelernt hatten, den schulischen Religionsunterricht. Nun gibt es in Deutschland ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer.
Seit Mitte 2023 ist Güven die erste staatlich-approbierte Religionslehrerin für syrisch-orthodoxe Kinder in Deutschland. Sie zeigt stolz das vom Religionspädagogen Josef Önder mit Studentinnen und Studenten in deutscher Sprache verfasste Buch Auf dem Weg zum Glauben - Syrisch-Orthodoxe Religionslehre: "Das erste syrisch-orthodoxe Religionsbuch für die Schule weltweit, das nach einem Bildungsplan erarbeitet wurde."
Viele Bilder in dem Schulbuch zeigen einfache Szenen des Landlebens. "Das ist das, was uns ausmacht, wenn man zurück zu den Wurzeln geht", erläutert Güven. "Unsere Eltern oder Großeltern waren halt in vielen Fällen Hirten oder Bauern. Der Turabdin - das ist eine landwirtschaftlich geprägte Region." Die Schülerinnen und Schüler hätten einen Zugang zu dieser Bilderwelt.
Wenn Güven erzählt, spürt man ihre Begeisterung. "Ich brenne für die Sache, weil mir das einfach ein Anliegen ist." Sie wolle den Kindern religiös "ein Zuhause bieten" und sie "in ihrer Identität stärken". Dazu gehöre auch das Aramäische, "die Sprache ist ja Teil unserer Identität." Wenn sie Religionsunterricht erteile, beginne jede Stunde mit einem Gebet des "Vater Unser" in aramäischer Sprache.
Bislang unterrichtet Güven an zwei Schulen Schülerinnen und Schüler aus mehreren Klassen, die in Gruppen zusammenkämen. "80 bis 85 insgesamt aus verschiedenen Jahrgängen", sagt sie, "Tendenz steigend."
Sie selbst hat sich noch ein neues Ziel gesetzt: Güven möchte bald eine Doktorarbeit schreiben. Damit will sie die Vermittlung ihrer Religion in Schule und Gemeinde auch wissenschaftlich aufarbeiten.