Argentinien trauert um Diego Armando Maradona
26. November 2020Es ist so wie immer, an diesem Mittwochmittag, als die sieben Sportjournalisten in ihrer Talkrunde auf ESPN über den argentinischen Fußball fachsimpeln. Die Selección, die argentinische Nationalmannschaft, die Copa Libertadores, die einheimische Liga. Folklore total: ein heilloses Durcheinander, fast niemand schafft es auszusprechen, immer wieder fallen sich die Experten ins Wort.
Doch dann kommt die Nachricht: Maradona ist tot. Und nur noch Stille.
Ungläubige Blicke. Reporter, die seit mehr als 30 Jahren im Geschäft sind, verlieren vollkommen die Fassung und brechen in Tränen aus. Plötzlich will niemand mehr reden. Die Kamera huscht verzweifelt von einem Journalisten zum nächsten, doch alle sieben sind wie sediert.
Bis Oscar Ruggeri, der Mann, der als Spieler zusammen mit Maradona 1986 in Mexiko Weltmeister wurde, die anderen erlöst und mit dürren Worten und tränenerstickter Stimme minutenlang vor sich hinstammelt: "Mit nur 60 Jahren gestorben. Das ist verrückt, so verrückt. Diego hat Argentinien in der ganzen Welt berühmt gemacht."
Ganz Argentinien weint
Kann man sich weltweit einen Menschen in irgendeinem Land vorstellen, bei dem der Tod solche Gefühle bei einer ganzen Nation auslöst? Wo Millionen Männer und Frauen ungläubig auf den Bildschirm und auf ihr Handy starren, als sie die "Breaking News" erfahren, und in einem ersten Reflex immer nur "Fake News", "Fake News", vor sich hinmurmeln?
Bis sie begreifen, dass er dieses Mal dem Tod nicht mehr von der Schippe springen konnte, ihr Diego, und sie anfangen hemmungslos zu schluchzen, viele sofort ihre Arbeit beenden und auf die Straßen in Buenos Aires, Rosario und Córdoba stürmen, um ihren Schmerz mit den anderen zu teilen. Argentinien weint, drei Tage Staatstrauer können den Schmerz da nur wenig lindern.
"Maradona war für die Argentinier nie nur der Fußballer, der unglaubliche Sachen auf dem Platz angestellt und erreicht hat, sondern auch derjenige, mit dem sie sich identifizieren konnten, weil er das Leben so intensiv gelebt hat wie kein Zweiter, so intensiv wie viele Argentinier", sagt der Sportjournalist Ezequiel Daray.
Und natürlich gibt es auch viele Argentinier, die seiner vielen Eskapaden überdrüssig waren. Die die Nase voll hatten von den ganzen Geschichten von Drogen und unehelichen Kindern, dem ewigen Drama, seinem Hang, zu jedem Thema seinen Senf dazuzugeben.
"Maradona hat mit seiner ganzen Leidenschaft polarisiert, er war nie grau, sondern nur schwarz oder weiß. Entweder die Menschen haben ihn geliebt oder verachtet", so Daray, "aber wer ihn jemals hat spielen sehen wie ich, der wird ihn nie vergessen."
Maradonas Sternstunde in Mexiko
Vor allem dieses eine Spiel, 1986 in der drückenden Hitze des Hexenkessels von Mexiko Stadt, schweißt die Argentinier bis an ihr Lebensende mit Maradona zusammen, macht ihn endgültig unsterblich in seiner Heimat. Es ist nicht das Finale gegen Deutschland, das Argentinien gewinnt, wo Maradona danach als bester Spieler des Turniers den Pokal in den blauen mexikanischen Himmel in die Höhe reckt.
Nein, das Spiel seines Lebens ist das Viertelfinale gegen England, Maradonas Tore werden auch jetzt wieder in Endlosschleife im argentinischen Fernsehen gezeigt. Mit der Hand Gottes und dem Tor des Jahrhunderts nach einem Sololauf über den halben Platz infiziert Maradona ganz Argentinien mit dem Fußball-Virus und gibt dem Land vier Jahre nach dem schmachvoll verlorenen Falkland-Krieg seinen Stolz zurück.
Unvergessen die legendäre Radio-Reportage von Victor Hugo Morales, in der der Radio-Reporter nach dem Jahrhunderttor nur ungläubig fragt: "Von welchem Planeten bist Du gekommen?" Noch heute, fast 35 Jahre später, skandieren argentinische Fans in allen Stadien "El que no salta es un inglés", "Wer nicht hüpft, der ist ein Engländer."
Lange Schlangen für die Totenwache
Der Schlachtruf ertönt auch jetzt, mitten durch die schwüle Nacht von Buenos Aires, in den kilometerlangen Schlangen im Zentrum der Hauptstadt – Hunderttausende Argentinier stehen geduldig an, um von Maradona Abschied zu nehmen. Und immer wieder, unterlegt mit Trompeten und Trommeln schallt es durch die Straßen: Maradoooona, Maradoooona.
Die Regierung von Präsident Alberto Fernández hat sofort vorgeschlagen, die Totenwache im Regierungspalast, der Casa Rosada, abzuhalten. Im selben Raum, in dem schon Präsident Nestor Kirchner im Oktober 2010 aufgebahrt wurde. Doch die Anteilnahme für Maradona übersteigt alles, vielleicht sogar den Tod der Volksikone Evitá Perón 1952.
Kleine Kinder errichten in der ganzen Stadt Schreine und zünden Kerzen an, Rosen werden an Laternenpfählen befestigt, auf den riesigen schwarzen Tafeln, welche die Bürger sonst ermahnen, nicht zu schnell zu fahren, steht jetzt nur in dicken Lettern "Gracias, Diego".
In der Bombonera, der Pralinenschachtel, dem Stadion von Maradonas Klub Boca Juniors, wird in der Nacht ein einziges strahlendes Licht angeknipst – an seinem Stammplatz auf der Tribüne. Die Partie von Boca in der Copa Libertadores wird verlegt - der Schriftsteller Ariel Magnus meint lapidar, man kann nicht spielen, wenn das Spiel selbst gestorben ist. Ein Messi wird in Argentinien verehrt, Maradona vergöttert. Seine letzte Ruhestätte findet er an der Seite seiner Eltern auf dem Friedhof Jardin de Paz vor den Toren von Buenos Aires.
Das fußballverrückteste Land der Welt liegt Maradona zu Füßen
"Diego Maradona hat mit kurzen Hosen den Platz betreten und gesagt 'Ich spiele Fußball wie niemand sonst', und es damit geschafft, dass ihm ganz Argentinien zu Füßen liegt," sagt der argentinische Journalist Eduardo Eschoyez, "und in einem fußballverrückten Land wie unserem, wo die Schüler nicht den Namen des Bildungsministers kennen, aber die Schuhgröße des Nationaltorwarts, heißt Fußball spielen, mit den Händen den Himmel zu berühren."
Maradona habe diesen Traum repräsentiert und zum Leben erweckt, so Eschoyez, den Traum von Abertausenden Fußballfans, die dem runden Leder hinterherjagen - in Argentinien und der ganzen Welt. "Diego hat mit seinen Toren sehr viele Menschen glücklich gemacht, die es in einem Land wie Argentinien gewöhnt sind, in der Schule, im Studium oder bei der Arbeit schlecht behandelt zu werden. Er war einzigartig, die Liebe für ihn war bedingungslos."
Vielleicht ist es das, was für die Argentinier am Ende zählt: nicht, was Maradona mit seinem Leben anstellte, sondern das, was er mit ihren Leben gemacht hat. Diego Armando Maradona, der nur 60 Jahre alt wurde, der Menschlichste unter den Göttern, wie ihn der Schriftsteller Eduardo Galeano nannte, der für viele beste Fußballer aller Zeiten, hat sein letztes Dribbling vollendet.
Maradona wurde endlich erlöst, glaubt Eschoyez, und spricht damit vielen seiner Landsleute aus dem Herzen: "Hinter dem Sprücheklopfer steckte immer ein sehr unsicherer und fragiler Mensch, der nicht in der Lage war, sich zu verteidigen. Er war immer umgeben von Leuten, die ihn fürs Geschäft bis auf den letzten Tropfen Blut ausgesaugt haben. Jetzt kann Diego ausruhen. Das erste Mal in seinem Leben."