Armenien: Frust über die Regierung hält an
10. Mai 2018Von dem Markt ist kaum noch etwas zu sehen: Der Firdaus-Basar liegt versteckt in einer Seitenstraße, nur wenige Minuten Fußweg vom Zentrum der armenischen Hauptstadt Jerewan entfernt. Am Anfang der Straße sitzen ein paar stille Verkäufer, die gemusterte Schürzen, Unterwäsche für Frauen und ordentlich aufgereihte pastellfarbene Kinderschuhe anbieten. Je weiter man die Straße entlanggeht, desto weniger Stände säumen sie. Die meisten der improvisierten Läden haben dicht gemacht.
Weniger als ein Jahr ist es her, dass die Regierung den Markt offiziell geschlossen hat. Entstanden war der Basar in den neunziger Jahren, nach dem Fall der Sowjetunion. Die Behörden wollen das Viertel mitten im Stadtzentrum nun komplett umkrempeln: Ein architektonisch moderner Komplex mit Wohnungen, Büros und einem unterirdischen Parkhaus soll dort entstehen.
Die noch übrigen Stände sollten eigentlich nicht mehr hier sein. Die Verkäufer wurden aufgefordert, ihre Geschäfte auf einem anderen Markt weiterzuführen. Aber viele sagen, dass sie sich die Mieten dort nicht leisten können.
Ungewisse Zukunft
Auch Anahit Pkhrikyan musste ihren kleinen Laden schließen. Wie viele der ehemaligen Verkäufer hat sie ihren Lebensunterhalt auf dem Markt verdient. Ein großes Schloss sichert die dicken, türkisfarbenen Metalltüren. Dahinter lagert die Kleidung, die Anahit Pkhrikyan hier verkauft hat. Sie erklärt, die Regierung erhebe Anspruch auf das vielversprechende Gebiet rund um den Markt und versuche deshalb, den Bewohner ihre Häusern abzukaufen. Ihre Wut ist greifbar. "Sind wir etwa Feinde der Regierung? Sie tut, was auch immer profitabel für sie selbst ist. Sie will uns nicht helfen, wir bedeuten ihr nichts."
Ihre Nachbarn nicken zustimmend. Niemand scheint genau zu wissen, wann das Viertel geräumt werden soll. Viele Bewohner glauben jedoch, dass die Regierung korrupt ist und sie betrügen will. "Wir haben im Fernsehen gehört, dass 253 Millionen Euro für all das bewilligt wurden", sagt Anahit Pkhrikyan. "Die Regierung steckt sich diese 253 Millionen Euro in die eigene Tasche und versucht gleichzeitig, uns hier so billig wie möglich rauszuschmeißen."
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Anahit Pkhrikyan ist alleinerziehende Mutter. Sie lebt mit ihrer Teenagertochter und ihrer pflegebedürftigen Mutter zusammen. Ohne ihr tägliches Einkommen vom Markt bleiben den drei Frauen nur 39.000 Dram (68 Euro) pro Monat, die ihnen der Staat gibt - sie kämpfen ums Überleben. Jetzt hat Anahit Pkhrikyan Angst, auch noch das Haus zu verlieren.
Die Summe, die die Behörden ihr dafür anbieten, sei viel zu gering, sagt sie - vor allem, wenn man die zentrale Lage des Viertels bedenke. "Sie können jederzeit kommen, uns über Nacht rausschmeißen und uns einen beliebigen Preis zahlen, den sie für angemessen halten", klagt Anahit Pkhrikyan. "Ich sollte die Möglichkeit haben, den Preis zu bestimmen, den ich für dieses Land haben möchte. Es ist mein Land, mein Eigentum! Wie kann man nur Eigentum anderer stehlen? Das ist es, was die Regierung tut: Stehlen!"
Oase der Ruhe
Direkt hinter ihrem ehemaligen Verkaufsstand läuft Pkhrikyan durch eine kleine Gasse, die zwischen den Häusern in einen riesigen Garten mit Kirschbäumen und Blumenbeeten führt. Über einen Pfad gelangt man zu einem Stall in der Ecke. Eine Handvoll Hühner pickt dort auf dem Boden. Pkhrikyan zeigt uns die Wände ihres Hauses. Sie sind aus alten Steinen gebaut, von denen sie sagt, dass sie noch aus der Zeit des Osmanischen Reiches stammen.
"Ehrlich gesagt würde ich das hier nicht einmal für eine Million aufgeben", sagt Pkhrikyan und lässt den Blick über ihr 2.000 Quadratmeter großes Grundstück schweifen. Seit Generationen befindet es sich in Familienbesitz. Stolz zeigt Pkhrikyan die Grundstückspapiere, die ihr Großvater vor 100 Jahren unterzeichnet hat.
"Meine Tochter sagt, wir sollten all das hier aufgeben und am besten sogar das Land verlassen", sagt Pkhrikyan. "Aber wie könnten wir das hier hinter uns lassen? Unser Land, die Gräber unserer Vorfahren. Mein Vater ist hier begraben, meine Großmutter und mein Großvater! Warum sollte ich das aufgeben? Soll es doch die Regierung aufgeben - die hat Milliarden!"
Standhafte Bewohner
Clara Melkumyan lebt gegenüber von Anahit Pkhrikyan, auf der anderen Seite der Straße, auf der anderen Seite des Firdaus-Marktes. Melkumyan ist über 80 Jahre alt und wohnt seit 30 Jahren in ihrem kleinen Zwei-Zimmer-Häuschen. Das ist zwar in einem erbärmlichen Zustand, doch auch Clara Melkumyan fordert von der Regierung einen angemessenen Preis für ihr Eigentum.
Clara Melkumyan glaubt den Behörden nicht, dass sie das Land für staatliche Zwecke nutzen wollen. "Hier wird weder eine Straße gebaut noch ein Krankenhaus oder ein Flughafen", schimpft sie. "Sie wollen das Land für sich selbst. Sie wollen auch dieses Land, diese Goldgrube hier an sich reißen und uns mit ein paar Cents abspeisen."
Die alte Dame hat mittlerweile eines ihrer zwei Zimmer in dem verfallenen Haus verschlossen. Ihr Bett hat sie über den schiefen Boden geschoben und an einer anderen Stelle platziert. "Ich habe Angst, dass das Bett durch den Fußboden brechen könnte." In der Decke und im Boden sind Risse zu sehen. Für alle Fälle hat Melkumyan Holzbalken aufgestellt, die den Fußboden stützen sollen.
Sobald sie genügend Geld angeboten bekomme, um umziehen zu können, werde sie wie der Blitz verschwinden, beteuert Clara Melkumyan. Sie beschuldigt die Regierung, ihre Rechte "mit Füßen zu treten. Wenigstens die restliche Zeit, die mir noch auf Erden bleibt, möchte ich eine bisschen leben, ein bisschen atmen. Das ist alles."
Bewohner fordern ein besseres Leben
Alles, was die Verkäufer des Firdaus-Marktes und die Bewohner um ihn herum im Moment tun können, ist warten. Viele von ihnen sagen, sie hätten ihre Unzufriedenheit mit der Regierung in den vergangenen Wochen auf die Straße getragen - und sind damit zehntausenden Armeniern gefolgt, die eine Veränderung fordern. Schließlich sind es nicht nur die Firdaus-Bewohner, die sich von der Regierung betrogen fühlen und sich nach einem besseren Leben sehnen. Laut Weltbank leben rund 29 Prozent der Armenier unterhalb der Armutsgrenze, rund 18 Prozent sind arbeitslos.
Zurück in ihrem Garten erzählt Anahita Pkhrikyan, dass auch sie bei den Demonstranten war. "Natürlich", sagt sie. "Jeder wünscht sich einfach ein besseres Leben. Wir haben alles so satt - wir werden seit Jahren bestohlen." Damit meint sie die Regierung von Sersch Sargsjan, der zehn Jahre lang Armeniens Staatschef war.
Für Anahita Pkhrikyan und viele andere Armenier geht es bei den Protesten weniger darum, ob Oppositionsführer Nikol Paschinjandie Führung des Landes übernimmt oder ob irgendwer anders den Posten ausfüllt. "Es geht um die Menschen, nicht um Nikol Paschinjan", betont sie. "Wir haben unsere Hoffnung verloren. Wie sollte es auch anders sein."