Asiatische Ökonomen blicken skeptisch nach Europa
16. Mai 2014Wenn Masahiro Kawai heute nach Europa blickt, dann ist das für ihn wie ein Déja-vu. "Niedrige Inflationsraten, langsames Wachstum, Probleme im Banksektor und eine alternde Gesellschaft – das sieht dem sehr ähnlich, was in Japan in den neunziger Jahren passiert ist", sagt der Ökonom, der an der Universität Tokio arbeitet. Damals begannen in Japan die Preise zu fallen, Unternehmen vertagten Investitionen, Konsumenten verschoben ihre Käufe in der Erwartung, dass die Produkte billiger werden würden. Die Wirtschaft geriet in eine Abwärtsspirale, aus der das Land lange nicht herausfand. "Wir hatten zwei verlorene Jahrzehnte", sagt Kawai. Kawai glaubt, nur eine Politik des billigen Geldes, wie sie die amerikanische Zentralbank umgesetzt hat, könne Europa aus der Stagnation führen. Die Europäische Zentralbank wiederhole stattdessen die Fehler Japans. "Ich bin sehr besorgt", sagt Kawai.
EZB: keine Deflationsgefahr
Kawai ist in Berlin auf einem Forum asiatischer und europäischer Ökonomen, das von sechs Stiftungen ausgerichtet wird, darunter die deutsche Bertelsmann-Stiftung, der regierungsnahe chinesische Think-Tank Akademie für Sozialwissenschaften und japanische, koreanische und französische Stiftungen. Im fünften Jahr der Euro-Krise dreht sich hier noch immer vieles um die Frage, wie die Euro-Zone aus dem Abwärtstrend kommen wird. Und deshalb ist Vitor Constancio, Vize-Präsident der Europäischen Zentralbank angereist, um den Teilnehmern über die Fortschritte bei der Euro-Rettung zu berichten. Die Sorge Kawais vor einer Deflation teilt Constancio nicht. "Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Ausgaben verschoben werden", beschwört er das Publikum. Die Preise in Europa würden weiterhin leicht steigen, Europa drohe keine "Japanisierung". Die europäische Wirtschaft sei im letzten Jahr zum ersten Mal wieder leicht gewachsen, betont er. Constancio ist bei der europäischen Zentralbank für die Bankenunion zuständig, die Zusammenführung der Bankenaufsichten und die Bildung eines Fonds, der in Not geratene Banken in Zukunft stützen soll, damit dies nicht die Staaten tun müssen. Die Grundlagen dafür seien gelegt, sagt er. "Wir haben große Fortschritte gemacht."
Dem will Yung Chul Park nicht zustimmen. "Diese Bankenunion existiert nur auf dem Papier. In der Wirklichkeit wird sie nicht funktionieren", glaubt der Professor an der Korea University in Seoul. Europa verliere sich in Diskussionen über kleine Reformen bei Institutionen, anstatt mit echten Strukturreformen für größeres Wachstum zu sorgen, glaubt er. Europa müsse seine Wettbewerbsfähigkeit stärken und den Arbeitsmarkt reformieren, sonst werde der Kontinent nicht zu seiner alten Bedeutung zurückfinden, glaubt er.
"Wir sind sehr enttäuscht"
Für Korea ist die EU der zweitwichtigste Handelspartner nach den USA. Als erstes asiatisches Land hat Südkorea ein Freihandelsabkommen mit der europäischen Union abgeschlossen. 70 Prozent der Waren können nun zollfrei zwischen beiden Ländern ausgetauscht werden. Doch der Wachstumseffekt aus diesem Abkommen sei wegen der schwachen europäischen Wirtschaft ausgeblieben, glaubt Park. Koreanische Unternehmen, die vor allem auf Europa gesetzt haben, würden sich nun den USA und anderen Handelspartnern zuwenden. "Die Europäischen Politiker scheinen sich nicht um den Rest der Welt zu kümmern. Wir sind sehr enttäuscht", sagt Park.
Positiver bewertet Huang Wei von der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften die Situation. "Als die Probleme des Euro 2010 zu Tage kamen, hat Europa sehr schnell reagiert", sagt die Expertin für Global Governance des regierungsnahen Think-Tanks. "Wir haben Europa als energisch empfunden. Und inzwischen zeigen einige Indikatoren ja wieder nach oben."
Auf ein kaufkräftiges, prosperierendes Europa setzt die chinesische Regierung deshalb aber noch lange nicht. Die Euro-Krise und die vorangegangene Weltwirtschaftskrise haben China stärker getroffen als die meisten anderen Länder. Ein Großteil der Produkte, die in China hergestellt werden, sind für den Export bestimmt. Seit vielen Jahren bemüht sich die Regierung deshalb, die Binnennachfrage zu stärken, um unabhängiger von der Konjunktur in Europa und den USA zu werden. "Wir hatten schon vorher verstanden, dass wir so nicht weitermachen können. Die Krise war für uns die Chance, das umzusetzen", sagt Huang. Chinas Wirtschaft hat relativ schnell wieder aus der Rezession herausgefunden und wächst seit einiger Zeit wieder - wenn auch längst nicht mehr im gleichen Tempo wie früher.