Mitsotakis positioniert den Balkan an der Seite der Ukraine
22. August 2023Ursprünglich wollte der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis dem EU-Erweiterungsprozess einen neuen Schub geben. Darum hatte er am Montag in Athen die Regierungschefs der Westbalkan-Länder zum Abendessen eingeladen - zum 20. Jahrestag des sogenannten "Versprechens von Thessaloniki".
Seit 20 Jahren sitzen Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo im EU-Wartesaal. Im Juni 2003 hatte die EU bekräftigt, dass sie die europäische Ausrichtung der westlichen Balkanstaaten vorbehaltlos unterstütze. "Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union", stand damals in der Abschlusserklärung des europäischen Gipfeltreffens in der Nähe der namensgebenden griechischen Hafenstadt Thessaloniki. Im August 2023 warten die sechs Länder des Westbalkans immer noch im Flur, und Länder wie Griechenland bemühen sich, für sie die Tür in die EU zu öffnen - mit äußerst mäßigem Erfolg.
Das Abendessen in Athen sollte einen neuen Anstoß geben, Bewegung in die festgefahrene Situation bringen. Doch der Star-Protagonist des Treffens in der griechischen Hauptstadt war kein Balkanchef - sondern Wolodymyr Selenskyj.
Der Präsident der Ukraine reiste nach Athen unter der üblichen Geheimhaltung an, bis zur letzten Minute war unklar, ob und warum er kommt. Am Ende überstrahlte seine Anwesenheit die der anderen geladenen Gäste - unter ihnen auch die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel.
Griechische Ausbildung für ukrainische F-16-Piloten
Seit Juni 2022 sind auch die Ukraine und ihre Nachbarrepublik Moldau offiziell Anwärter auf einen EU-Beitritt, auch hier scheint eine baldige Mitgliedschaft unwahrscheinlich. Doch für Selenskyj, scheint es, standen bei seinem Besuch in Athen nicht die Verbrüderung mit anderen Anwärter-Kandidaten, sondern andere, akutere Themen im Vordergrund.
Nach dem Treffen gab Selenskyj bekannt, Mitsotakis habe ihm angeboten, ukrainische Piloten für Kampfjets vom Typ F-16 auszubilden. Erst am Sonntag hatten Dänemark und die Niederlande der Ukraine zugesagt, Dutzende F-16-Kampfflugzeuge für den Abwehrkampf gegen die russische Invasion zu liefern. Die F-16-Jets gelten als kompliziert zu handhaben und die Ausbildung der Piloten als schwierig.
Griechenlands Luftwaffe fliegt selbst überwiegend F-16-Jets. Nun soll die Ausbildung der ukrainischen Piloten in Kalamata stattfinden, in einem hochmodernen Trainingslager, das Griechenland in Zusammenarbeit mit Israel betreibt. Selenskyj bedankte sich in Athen für das Angebot, das er gerne annehme.
Gegen "unhistorischen Revisionismus"
Zuvor hatte Griechenlands Premier Mitsotakis ihm vor laufender Kamera versichert, dass Athen an der Seite der Ukraine stehe, "egal, was nötig ist", und hinzugefügt, dass "die Ukrainer eine Inspiration für alle demokratischen Bürger Europas" seien.
Mitsotakis teilte auch gegen den "unhistorischen Revisionismus" aus - wobei er dabei nicht nur Russland, sondern auch die Türkei im Kopf haben dürfte, mit der Griechenland wegen Gebietsansprüchen immer wieder im Clinch liegt - und argumentierte, dass Russland "für seine Verbrechen von der internationalen Justiz bestraft werden muss". Er hob auch die bisherige Unterstützung Griechenlands hervor und betonte, dass mehr als die Hälfte des ukrainischen Getreides mit griechischen Schiffen exportiert werde. Zum Transport von russischem Öl mit griechischen Tankern sagte Mitsotakis dagegen nichts.
Griechische "Brüder" in Mariupol
Die militärische Hilfe für die Ukraine ist in der griechischen Öffentlichkeit nicht gerade beliebt. Zwar befürwortet laut Umfragen eine deutliche Mehrheit Sanktionen gegen Russland, und drei Viertel aller Griechen sprechen sich auch für eine finanzielle Unterstützung der Ukraine aus. Waffenlieferungen lehnen allerdings zwei Drittel der Befragten ab.
Dagegen wird in Griechenland die Hilfe für "unsere Brüder" in Odessa und Mariupol von weiten Teilen der Bevölkerung gestützt. Laut der griechischen Regierung haben in Mariupol und Umgebung vor dem russischen Angriff auf die Ukraine 100.000 Menschen mit griechischen Wurzeln gelebt. Für sie fühlt sich die Athener Regierung verantwortlich.
Darum bot der ehemalige Außenminister Nikos Dendias auch gleich zu Beginn des Kriegs im März 2022 zunächst an, einen Hilfskonvoi nach Mariupol zu begleiten, und reiste schließlich einen Monat später selbst in die Stadt.
Als Mariupol zum Symbol für das Leiden der ukrainischen Zivilbevölkerung wurde, forderte Dendias, dass Griechenland wegen seines "besonderen Interesses an Mariupol" an einem künftigen Gerichtsprozess über die russischen Kriegsverbrechen beteiligt werden müsse.
Versprechen für Wiederaufbau von Odessa
Wegen der Minderheit in der Ukraine unterstützt die griechische Bevölkerung auch in weiten Teilen das Versprechen von Mitsotakis, dass Griechenland beim Wiederaufbau der Ukraine und besonders von Odessa helfen werde.
Kinder in Griechenland lernen zudem schon in der Grundschule, dass in der ukrainischen Hafenstadt die griechische Geheimorganisation "Filiki Eteria" entstand, die 1821 den Aufstand gegen die osmanische Herrschaft in Griechenland auslöste - und damit langfristig den Startschuss für die Unabhängigkeit des Staats an der Ägäis gab.
Die "Erklärung von Athen" für die Ukraine
Nach dem Abendessen brachten die Staats- und Regierungschefs der Balkanländer ihre unerschütterliche Unterstützung "für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, basierend auf den Werten der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit gegen die russische Aggression" zum Ausdruck. Neben den EU-Aspiranten waren auch die EU-Mitgliedsstaaten auf dem Balkan anwesend. Einzig Albaniens Premier Edi Rama war wegen aktueller Spannungen zwischen Griechenland und Albanien nicht eingeladen worden.
Die Regierungschefs von Serbien, Republik Moldau, Montenegro, Griechenland, Rumänien, Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Bulgarien, Kroatien und der Ukraine unterschrieben am Ende die sogenannte "Erklärung von Athen", laut der "Kriegsverbrechen und andere Verbrechen nicht ungestraft bleiben dürfen". Alle Verantwortlichen von Verbrechen wie Angriffen auf Zivilisten, aber auch von Infrastruktur-Zerstörung müssen zur Rechenschaft gezogen werden, fordern die Unterzeichner in der Erklärung.
In der "Erklärung von Athen" fanden sich auch ein paar Zeilen zum ursprünglichen Grund des Treffens: Es sei dringend notwendig, den Weg der Westbalkan-Länder in die EU zu beschleunigen. Von einem "neuen Schwung in der Sache" spürte man allerdings: nichts.