Lernt die Welt, die Atombombe zu lieben?
13. Juni 2022Jeden Dienstag steigt Rüdiger Lancelle ins Auto und fährt zum Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz. Der 83-jährige Friedensaktivist setzt sich auf einen Campingstuhl vor das Tor und hält Mahnwache. Sein Ziel: "Dass die Waffen, die in Büchel liegen, wegkommen und verschrottet werden", sagt er der DW am Telefon.
Etwa 20 Atombomben lagern in Büchel. Die US-amerikanischen Wasserstoffbomben vom Typ B61 würden bei einem Angriff von deutschen Kampfpiloten abgeworfen. Gegen diese sogenannte "nukleare Teilhabe" Deutschlands protestiert Lancelle.
Mehrheit der Deutschen will Atombomben behalten
Noch vor einem halben Jahr sah es so aus, als könnten Friedensaktivisten wie Lancelle hierzulande eine Mehrheit finden. Ein "Deutschland frei von Atomwaffen" hatten sich auch die Parteien der Ampelkoalition als Ziel der neuen Regierung gesetzt. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und nuklearen Drohungen aus dem Kreml scheint das jedoch Schnee von gestern zu sein.
Laut einer aktuellen infratest-dimap-Umfrage im Auftrag des ARD-Politikmagazins Panorama sprechen sich mittlerweile 52 Prozent der Deutschen für den Verbleib der US-Atombomben in Deutschland aus. Bei einer ähnlichen Umfrage vor einem Jahr waren es gerade einmal 14 Prozent.
Dass die Deutschen lernen, die Bombe zu lieben, das spürt auch Lancelle: "Ich stelle immer einen Stuhl neben meinen Stuhl, damit Menschen sich eingeladen fühlen zum Gespräch. Aber bisher kommt keiner und sagt: Du hast recht."
Neue Waffen fürs Atom-Arsenal
Ab 2023 sollen die Atombomben in Büchel durch das neue Modell B61-12 ersetzt werden. Die moderne Waffe kann nicht nur ins Ziel gelenkt werden, ihre Sprengkraft lässt sich auch variabel einstellen. Kritiker befürchten, dass damit die Hemmschwelle sinken könnte, diese Bombe tatsächlich einzusetzen.
Etwa 10 Milliarden US-Dollar lassen sich die USA die Modernisierung ihrer Atombomben kosten. Deutschland wiederum investiert Milliarden an Euro in die passenden Träger-Flugzeuge vom Typ F-35 .
Nach Jahrzehnten der atomaren Abrüstung geben derzeit alle Atommächte viel Geld aus für neue nukleare Sprengköpfe und die dazugehörigen Trägersysteme wie Raketen, Schiffe, U-Boote oder Flugzeuge. "Sie sind alle schwer damit beschäftigt, ihre Arsenale zu modernisieren", beobachtet Hans Kristensen, Experte beim Friedensforschungsinstitut SIPRI. "Die Länder legen wieder mehr Wert auf Atomwaffen."
China will in die erste Atom-Liga
Dabei sticht ein Land besonders heraus: "Niemand erhöht die Zahl der Atomwaffen so stark wie China", sagt Kristensen der DW. "Wir wissen nicht, warum. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass China nicht darüber sprechen will. Es äußert sich nicht zum Bau von Silos, die wohl für ballistische Raketen gedacht sind." In den vergangenen zwei Jahren hat Kristensen auf Satellitenbildern etwa 300 solcher neu gebauten Silos in chinesischen Wüsten identifiziert.
"Vielleicht befürchtet China, dass sein bisheriges Arsenal einen Atomschlag der USA nicht überstehen würde", sagt Kristensen. "Vielleicht ist es auch eine Reaktion darauf, dass die Raketenabwehr in Zukunft besser sein wird und China in der Lage sein will, solche Systeme mit mehr Sprengköpfen zu überwinden." Eines stehe jedenfalls fest: Präsident Xi Jinping will eine Armee von "Weltklasse" - und die soll auch atomar hochgerüstet sein.
Startet ein unkontrolliertes Wettrüsten?
Deshalb wäre es wichtig, China mit internationalen Verträgen auf eine Höchstzahl nuklearer Waffen zu verpflichten, sagt Kristensen. "Die Chinesen haben jedoch bislang kein Interesse. Sie lehnen alle Vorschläge ab."
Schon bald werden auch die USA und Russland sich an keine Obergrenze mehr halten müssen. Denn 2026 läuft das Abkommen "New Start" aus - wobei Start für "Strategic Arms Reduction Treaty" steht. Von einem einst umfassenden System von Rüstungskontrollverträgen ist "New Start" das einzig verbliebene Element,. Es begrenzt die Zahl von strategischen Atomwaffen wie etwa Langstreckenraketen. "Angesichts des russischen Ukraine-Krieges und der Entwicklung der Republikanischen Partei in den USA ist ein Nachfolge-Abkommen unwahrscheinlich", urteilt Kristensen.
Damit dürfte ein neuer atomarer Wettbewerb zwischen China, Russland und den USA beginnen. "Das gilt aber auch für die sehr dynamischen neuen Kernwaffenstaaten wie Indien, Pakistan und Nordkorea", befürchtet SIPRI-Experte Kristensen. Die Gefahr eines Atomkrieges sei damit deutlich höher als noch vor einem Jahrzehnt. "Wir leben in einer neuen Ära nuklearer Risiken."
Mutanten im Baikalsee
Besonders anschaulich werden diese Risiken derzeit im russischen Staatsfernsehen beschrieben. "Wenn alles so weiter geht wie bisher, werden nur einige Mutanten im Baikalsee überleben", sagte TV-Moderator und Putin-Sprachrohr Wladimir Solowjow vor einigen Tagen. "Der Rest der Welt wird in einem massiven Nuklearschlag untergehen."
Russland scheint die Furcht vor seinem gewaltigen Atomarsenal aufrecht halten zu wollen. Es soll die NATO-Länder davon abhalten, zur Verteidigung der Ukraine direkt in den Krieg einzugreifen. Eine Logik, die dafür sorgt, dass auch andere Länder wie etwa der Iran nach Atomwaffen streben, um sich unangreifbar zu machen.
Eine atomwaffenfreie Welt dürfte deshalb in sehr weite Ferne gerückt sein. Das ist auch dem deutschen Friedensaktivisten Lancelle klar. "Ja, es ist ein Kampf gegen Windmühlen", sagt er. Als Christ habe er jedoch den Auftrag, sich für Gewaltfreiheit einzusetzen. "Ich kenne keine andere Waffe als das Gebet." Deshalb will Lancelle weiter vor dem Tor in Büchel sitzen und gegen Atomwaffen protestieren - still und wohl auch allein.