Auf dem Rücken der Bauern
8. März 2002In Peking und Schanghai wird ein Wolkenkratzer nach dem anderen aus dem Boden gestampft, immer mehr westliche Autos rollen über immer besser ausgebaute Straßen, in Kaufhäusern und Restaurants herrscht Hochbetrieb. Das kommunistische China erscheint in diesen Metropolen wie ein modernes Konsumparadies, und lässt schnell vergessen, dass die überwältigende Mehrheit der Chinesen nicht an den Segnungen der Moderne teil hat. Zwei Drittel des 1,3-Milliarden-Volkes sind Bauern oder Beschäftigte ländlicher Betriebe – Menschen, die inzwischen zwar nicht mehr Hunger leiden. Darüber hinaus können sie sich aber oftmals kaum mehr als Kleidung und bescheidene Behausungen leisten. Immer deutlicher zeigt sich: Wenn Chinas Regierung hier nicht gegensteuert, droht die Landbevölkerung zum Verlierer des Reformprozesses zu werden.
Die Einkommensschere klafft auseinander
Chinas Bauern stöhnen unter hohen Abgaben und Steuern - und verdienen im Schnitt nicht einmal ein Drittel dessen, was die meisten Städter am Monatsende in ihren Lohntüten finden. Und während die städtischen Einkommen steigen, ist der Lohn vieler Bauern in den vergangenen Jahren sogar gesunken, wie selbst Ministerpräsident Zhu Rongji am Dienstag (5.3.) auf der Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses einräumen musste: "Wir stellen nüchtern fest, dass es im gegenwärtigen Wirtschafts- und sozialen Leben viele dringende zu lösende Probleme gibt. So nimmt das Einkommen der Bauern in einigen Gebieten ab. An vielen Orten werden die Löhne nicht gezahlt und grundlegende Probleme im Wirtschaftssystem bleiben ungelöst."
Chinas Landwirtschaft ist hoffnungslos veraltet. Zwar wurde Ende der 70er Jahre mit der Einführung eines Erbpachtsystems ein erster Schritt aus der Kollektivwirtschaft in Richtung Privatisierung getan. Doch die Mehrzahl der chinesischen Bauern kann sich bis heute keine modernen Maschinen leisten, um die meist kleinen Äcker gewinnbringend zu bewirtschaften. Nicht selten reicht die Ernte kaum über den Eigenbedarf hinaus.
Modernisierung schröpft die Bescheidenen
Durch Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) droht sich die soziale Kluft zwischen Land- und Stadtbevölkerung noch mehr zu vertiefen. Die Bauern müssen verschärfte internationale Konkurrenz befürchten, da ihre Produktionskosten bis zu 30 Prozent über denen entwickelter Länder liegen. Mit der schrittweisen Senkung der Einfuhrzölle dürften viele Agrarprodukte auch in China selbst immer weniger konkurrenzfähig werden. Chinas Agrarministerium rechnet im Zuge des WTO-Beitritts bereits mit dem Verlust von 20 Millionen Arbeitsplätzen im Bereich Landwirtschaft, vorsichtig geschätzt. Zugleich kommen die groß angelegten Infrastrukturprogramme im ländlich geprägten Westen des Landes bislang kaum voran.
Unmut macht sich breit
Die Verärgerung vieler Bauern über ihre Benachteiligung ist spürbar. Solange sie genug zu essen haben, murren sie nicht. Geld ist ihnen nicht so wichtig. Wenn sie jedoch Hunger leiden, werden sie wütend. Ein bißchen Kleidung und ein voller Magen sind das mindeste, um sie zu besänftigen. Bereits in den vergangenen Jahren hat es in verschiedenen Landesteilen Chinas immer wieder gewaltsame Bauernproteste gegeben, meistens gegen das Eintreiben von Steuern. Solche Proteste richten sich zwar normalerweise nicht direkt gegen die Kommunistische Partei und ihr staatliches Machtmonopol. Dennoch drohen sich die Unzufriedenheit der Landbevölkerung und ihr Neid auf Neureiche und korrupte Kader zu einem großen Problem für Chinas Führung auszuweiten. Die Bauern könnten zu einem konstanten Unruhefaktor werden in einer Zeit, in der sich das Land weiter in die Weltwirtschaft integriert und einen Führungswechsel vorbereitet.
Die Landflucht setzt ein
Auf jeden Fall dürfte sich die Landflucht verstärken. Trotz begrenzter Freizügigkeit im Landesinneren und eines strikten Wohnort-Erfassungssystems verlassen schon heute immer mehr Bauern ihre ländliche Heimat und verdingen sich als Wanderarbeiter in den Städten. Damit tragen sie die Armut des Hinterlandes auch sichtbar in die glitzernden Wohlstands-Metropolen hinein.