Auf der Suche nach Wahrheit
13. Februar 2015Haiti 2010, nach dem Erdbeben. Nacht. Männer in weißen Schutzanzügen, sie sammeln Leichen ein. Ameisen, Trümmer. Die Stadt ist tot, sagt der Mann, ein Intellektueller. Noch vor wenigen Tagen war er vermögend, jetzt ist nichts mehr da. Die beiden Autos in der Garage zerstört, die Villa einsturzgefährdet. Dort, wo einmal eine Terrasse war, steht ein Sessel verloren in der Landschaft. Seine Frau hat den Schuppen als Notunterkunft hergerichtet. Sie ist ungeschickt, das Anpacken nicht gewohnt. Geld muss her, deshalb wird ein Teil des Hauses vermietet, trotz der Risse im Mauerwerk.
Neue Herrschaften
Ein Franzose zieht ein, ein leitender Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. Er fährt im teuren Geländewagen vor, hat Lebensmittel dabei, viel Alkohol und seine Geliebte, eine lebenshungrige junge Einheimische. Unverzüglich übernehmen diese beiden die Herrschaft, haben lautstarken Sex, feiern Partys, während die früheren Eigentümer voller stummer Vorwürfe wortkarg nebeneinander her vegetieren. In der Luft hängt Verwesungsgeruch. Die Leiche ihres Adoptivkindes liegt unter den Trümmern. Erst nach Tagen traut sich ein ehemaliger Angestellter, nach ihr zu suchen.
Der in Paris lebende Filmemacher, Kosmopolit und frühere Kultusminister Haitis, Raoul Peck hat in seinem Spielfilm "Meurtre à Pacot" mit sparsamen Mitteln eine kraftvolle Parabel über die vielschichtige Zerstörung der Karibikinsel geschaffen. Erst die Naturkatastrophe, dann die ausländischen Hilfskräfte als neue Herren. Und zwischen beiden die nach sozialem Aufstieg gierende Jugend. Die Ordnung ist auf den Kopf gestellt, die einstige Oberschicht verroht. Eine Tragödie mit bitterem Ende. Die Gespielin des Franzosen muss sterben. Was bleibt, sind Vereinzelung und grenzenlose Trauer.
Anders hinsehen
Der Vergangene aus anderem Winkel zu betrachten, Wahrheiten zu hinterfragen und Geschichte neu zu bewerten, ist das Ansinnen einer ganzen Reihe höchst unterschiedlicher Produktionen, die während der diesjährigen Berlinale außerhalb des Wettbewerbs präsentiert werden. Das asiatische Kino macht das auf seine Weise, mit großen, üppig ausgestatteten Filmen, die stark mit Emotionen arbeiten und dank des eingestreuten Klamauks auch für Gelächter sorgen. Kino total, tauglich für die breite Masse, für die es gemacht ist.
So ein Film ist "Paradise in Service" aus Taiwan, der ein Tabu lüftet. Während des Kampfes gegen Maos Truppen hat Taiwan an vorderster Front Bordelle unterhalten. Man wollte die Soldaten bei Laune halten. Den in die Prostitution gedrängten Frauen, zumeist Kleinkriminelle, wurde eine Verkürzung ihrer Haftstrafe in Aussicht gestellt. Eine üble Geschichte aus einer repressiven Männergesellschaft, der ein weniger auf Unterhaltung ausgelegter, kritischer Zugang gut getan hätte!
Blick zurück
Gelungener ist das Epos "Gukje Shijang/Ode to my father", das gleichzeitig eine Familien- und die Geschichte ganz Koreas erzählt. Sie beginnt 1951 mit der dramatischen Flucht Tausender aus der brennenden nordkoreanischen Stadt Hungnam und heftet sich an eine Familie, die per Schiff in den Süden des Landes zu kommen hofft, dabei aber vom Vater getrennt wird. An seinen Platz muss Sohn Dug-Soo rücken. Er nimmt die Verantwortung mehr als sechzig Jahre lang wahr – geht als Minenarbeiter nach Deutschland, zieht als Söldner in den Vietnamkrieg, betreibt den Laden seiner Tante, damit der jüngere Bruder studieren und die Schwester verheiratet werden kann. Regisseur JK Youn hat diesen Film seinem Vater und dessen Generation gewidmet, all jenen, die das Land aufgebaut und dabei eigene Interessen den Wünschen der Familie geopfert haben. Er hoffe, dass sein Film dazu beitrage, das eigene Leben mit anderen Augen zu sehen, sagt JK Youn. Denn längst hat auch in Süd-Korea die Familie an Bedeutung verloren, längst ist das Streben nach individuellem Glück wichtiger geworden.
Nachdenklich guckt auch die israelische Filmemachernin Mor Loushy in die Vergangenheit. In der Schule hat sie immer nur heldenhafte Geschichten über den Sechstagekrieg im Jahr 1967 gehört. Wie das kleine Israel zum Goliath wurde, in einem so genannten "gerechten Unterfangen" gesiegt und Jerusalem, Gaza, den Sinai und die West Bank eingenommen hat. Der Sieg habe die israelische Identität geprägt, ist Mor Loushy überzeugt, auch wenn die Euphorie sich mit den Jahren gelegt habe. Dass Soldaten ganz anders aus diesem Krieg zurückgekehrt sind – zweifelnd und voller Scham – haben der Schriftsteller Amos Oz und eine Reihe junger Menschen damals in ihrem Kibbuz bemerkt und tagelang Gespräche mit Rückkehrern geführt. Veröffentlicht werden durften die Gesprächsprotokolle bis heute nicht, die israelische Armee hat die meisten Tonbandaufnahmen zensiert.
Aus der Vergangenheit lernen
Gerade heute, in einer Zeit, da Israels Siedlungen immer weiter wachsen und die Lage alles andere als friedlich ist, sollten wir zurückblicken und zuhören, sagt Mor Loushy. Deshalb hat sie ihren Film "Censored Voices" gemacht, mit Archivaufnahmen und alten Männern, die sich anhören, was sie damals erzählt haben. Über Gewalt an Zivilisten und von Vertreibungen. Und ob das alles rechtens sei. Die Sehnsucht nach Selbstvergewisserung und Orientierung ist groß, das verdeutlichen viele Filme dieser Berlinale.