...für Zeitgeschichtefans
10. Februar 2012
Fukushima hat in Europa zu einer Erkenntnis geführt, von der man dachte, sie sei bereits seit Jahrzehnten fest in der Gesellschaft verankert: Atomkraft kann sehr riskant sein. Zu den nuklearen Störfällen in dem japanischen Kernkraftwerk im März 2011 sagten Politiker wieder Dinge wie:"Die ist ein Einschnitt von globaler Tragweite." In Deutschland skandierten Menschen zu hunderttausenden"Atomkraft, nein danke!"
Schwer verdauliche Erinnerungen
Das alles hatte man 25 Jahre vorher in Europa schon mal gehört und erlebt. Damals, nach dem 26. April 1986 und der Explosion eines Reaktors im weißrussischen Tschernobyl. Die Katastrophe von Fukushima hat dann mal wieder gezeigt, wie erfolgreich man Risiken verdrängen kann, solange nichts passiert.
Da funken die neu aufgelegten Erinnerungen, die die Journalistin Swetlana Alexijewitsch nach Tschernobyl gesammelt hat, wie eine schwer verdauliche, unangenehme Erinnerung dazwischen.
„Man hat mir ein Strahlenmessgerät gegeben, aber was soll ich damit? Wenn ich Wäsche wasche, sie ist schneeweiß bei mir, klickt das Gerät nur so. Wenn ich Essen koche, einen Kuchen backe, klickt es. Zwei Kinder, zwei Jungen. Der Älteste, er ist kahl. Er ist der Kleinste in der Klasse. Er darf nicht laufen, nicht spielen, wenn ihn jemand versehentlich schlägt und Blut fließt, kann er sterben. Ich habe in der Toilette geweint. Alle Mütter weinen in den Toiletten."
Selbst wer dachte, er habe alles, was nach Tschernobyl geschah, bereits schon einmal gehört, gelesen und gesehen, wird von den gesammelten Erzählungen der Zeitzeugen berührt sein. Die puristische Mischung aus persönlichen Schicksalen, vorgetragen mit emotionslosen Stimmen, gemischt mit Geräuschen, ohne jeden Kommentar, geht unter die Haut. Die "Gespräche mit Lebenden und Toten" kann man kaum an einem Stück ertragen, aber man muss sie hören – ausgezeichnete Dokumentarprosa!
Kampf dem Kolonialismus
Eine verwirrend gute Mischung aus Fakten und Fiktionen ist dagegen die Lebensgeschichte des Roger Casement, die Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa 2010 veröffentlich hat. Packend geschrieben und ebenso in der Hörbuchversion gelesen, vergisst man schnell, dass das Grundgerüst im "Traum des Kelten" ein reales Leben ist: Der Ire Roger Casement lebte bis 1916. Er wandelte sich von einem begeisterten Afrika-Forscher zu einem Kämpfer gegen das belgische Kolonialregime im Kongo, und fand darüber zu seinen irischen Wurzeln. Er schloss sich der irischen Unabhängigkeitsbewegung gegen Großbritannien an und war an dem gescheiterten Osteraufstand von 1916 beteiligt.
Vargas Llosa beginnt die Geschichte des Roger Casement an ihrem Ende, in einer Londoner Gefängniszelle, in der der Ire auf seinen Prozess wartet. Ganz klassisch lässt Vargas Llosa seinen realen Helden zurückblicken auf sein Leben.
„Im Unterschied zu den übrigen europäischen Expeditionsteilnehmern war ihm Geld nicht wichtig. Er war nicht nach Afrika gekommen um reich zu werden, sondern aus einem so unbegreiflichen Grund wie dem Wunsch den Wilden den Fortschritt zu bringen. (...) Einmal gestand er, dass sein Vater ihn mit dem Riemen geschlagen habe, weshalb er es nicht ertrage, dass die Aufseher die Eingeborenen auspeitschten, wenn sie eine Last fallen ließen."
Die Iren verehren den Freiheitskämpfer Roger Casement bis heute. Seine Geschichte, wie Vargas Llosa sie erzählt, ist eine aufwühlende Reise durch die europäisch-afrikanische Vergangenheit des 19. und 20. Jahrhunderts.
Goethe von seiner weiblichen Seite
Etwas weiter zurück geht Joseph Kiermeier-Debre, der die Lebenserinnerungen und Begegnungen des Johann Wolfgang von Goethe inspiziert. Allerdings nur die weiblichen, die so schöne Namen haben wie Charlotte, Johanna oder Theodore:
Goethes Frauen. Der Dichter kannte und liebte sehr viele Frauen in seinem 82 Jahre währenden Leben, offensichtlich nicht zuletzt dank einer innigen Beziehung zu seiner Mutter.
"Nie verlor sie den Kontakt zu ihrem Sohn, und mit großem Interesse und mit viel Anteilnahme verfolgte sie Goethes Weimarer Existenz am Hofe. Die Briefe von ihr, die erhalten sind, zeigen sie zwar orthographisch unsicher, aber stets in ungezwungen-natürlichem und launigem Plauderton mit ihrem 'Hätschelhans'".
Einmal hat Goethe geheiratet, viele Male war er aber verliebt und hat einige Herzen gebrochen, laut der Recherchen von Joseph Kiermeier-Debre. 44 Porträts listet er in "Goethes Frauen" auf, reale wie erfundene, und er macht sich die Mühe, dabei Goethes literarische Frauenfiguren zu analysieren.
"Faustina ist die erotische Größe in Goethes Leben, in der die Wünsche der Biographen und Wirklichkeit des Biographierten im fließenden Übergang befindlich sind. (...) Weil es keine Faustina gab, heißt das ja nicht, dass Goethe in Rom keine Liebschaften hatte."
Der Autor zieht Verbindungen zwischen Goethes Leben und seiner Dichtung allerdings nur da, wo sie auch nahe liegen. Sein biografischer Blick auf Goethes weibliche Bekanntschaften ist zwar manchmal etwas steif formuliert, aber er lässt den Menschen Goethe ziemlich gelungen von einem interessanten Blickwinkel aus erneut lebendig werden.
Autorin: Marlis Schaum
Redaktion: Gabriela Schaaf
Swetlana Alexijewitsch:"Gespräche mit Lebenden und Toten", Hörspiel, Sprecher: Peter Gavajda, Konstantin Graudus, Viola Morlinghause, Ilse Strambowski, Regie: Ulrich Gerhardt, der Hörverlag ,1 CD, Gesamtlaufzeit 78 Minuten, ISBN 978-3-86717-804-4, 14,99 Euro.
Mario Vargas Llosa:"Der Traum des Kelten", der Hörverlag, gelesen von Burghart Klaußner, 8 CDs, Gesamtlaufzeit 606 Minuten, ISBN 978-86717-802-0, 29,99 Euro
Joseph Kiermeier-Debre:"Goethes Frauen; 44 Porträts aus Leben und Dichtung", dtv Verlag, 445 Seiten, ISBN 978-3-423-14025-6, 10,20 Euro.